Nabelschnur bis zur Kaserne

Die italienische Armee ist nach eigener Einschätzung in gutem Zustand. An eine Reform denkt schon aus Kostengründen niemand  ■ Aus Rom Werner Raith

Wenn Massimo Atanio derzeit auf seine Tätigkeit angesprochen wird, schwillt seine Brust: „Ich leiste gerade meinen Wehrdienst“, sagt er, „bei der Artillerie.“ Schön. Aber wieso sieht man ihn dann nahezu unentwegt zu Hause, im elterlichen Bauern- und Reiterhof bei San Felice Circeo? „Ganz einfach“, erklärt Massimo. „Die Kaserne ist ja nur ein paar Kilometer entfernt, und zu tun gibt's da ja auch kaum etwas.“ So füttert er also wie eh und je die Tiere, gibt Reitunterricht und steht ansonsten mit seinen Freunden herum.

„Vaterlandsverteidiger“, sagt sein Vater Giuseppe verächtlich. Zu seiner Zeit, vor 30 Jahren, sei das noch anders gewesen. „Da sind wir tagelang im Dreck herumgerobbt, die Schleifer haben uns eingebleut, daß wir das auch bald in Rußland machen würden.“ „Vaterlandsverteidiger“, knurrt auch der Bürgermeister von Latina, Aimone Finestra. Er, der noch den Zweiten Weltkrieg als Soldat erlebt hat, sieht die italienische Armee allenfalls als „große Anstalt zur Kinderlandverschickung“.

Das beste Beispiel war ihm bis vor kurzem sein Sohn. Der war, wie alle „Bengels aus dieser Generation“, erst mal für vier Wochen weit von zu Hause eingerückt, doch dann, die Mama hatte keine Ruhe gegeben, über „gewisse Kanäle“ in Latina gelandet, im dortigen kleinen Fliegerhorst. „Und da haben sie ihn alle paar Tage nach Hause geschickt, wenn er mal eine Grippe hatte oder eine Magenverstimmung. Natürlich sehen das die Kommandierenden anders. Zwar sei die „Abnabelung von zu Hause in Italien ein echtes Problem“, gibt ein Generalstäbler in Rom zu. „Aber die Armee ist in keinem schlechten Zustand, auch gibt es wenig Widerstand gegen den Wehrdienst.“ Das stimmt, hat aber seine besonderen Gründe. In Italien war Kriegsdienstverweigerung bis vor kurzem mit Fahnenflucht gleichgesetzt und wurde mit Gefängnis bestraft. Eine Kultur der Verweigerung wie etwa in Deutschland kam so nicht auf.

Erst Ende der achtziger Jahre wurde die Gefängnisstrafe abgeschafft. Mit dem Abbau der Truppenstärken braucht das Land längst nicht mehr alle Diensttaugliche für den mittlerweile nur noch achtmonatigen Dienst. Also drückte man schon bei geringen Wehwehchen ein Auge zu und berief nicht mehr ein. Wer studieren wollte, konnte auch damit den Dienst am Vaterland hinauszögern oder gar vermeiden.

Ein Ersatzdienstgesetz gibt es nicht. So bleibt es bei der eingeschliffenen Methode: Einrücken muß man, aber dann so schnell wie möglich wieder in die Nähe der Eltern. Als 1987 ein Verteidigungsminister verfügt hatte, daß die ersten sechs Wochen nach dem Einzug in die Kaserne kein Rekrut Urlaub und Besuch bekommt, kam es zu einer Selbstmordwelle. Erst als den Müttern erlaubt wurde, die Bübchen schon nach 14 Tagen zu besuchen, brach die Serie ab.

Der in anderen Ländern gängige Gedanke, der Wehrdienst sei auch ein Schritt „raus aus der Familie“, blieb in Italien im Ansatz stecken – nach Ansicht von über 70 Prozent der italienischen Mütter und 60 Prozent der Väter ist es einfach „noch zu früh, wenn die mit 18 schon von zu Hause wegmüssen“.

Allenfalls unter pragmatischen Gesichtspunkten lassen sich viele die Sache noch gefallen: „Die kommen halt, um kostenlos den Führerschein zu machen oder, wenn sie ihn schon haben, den für Lastwagen dazu“, berichtet ein Feldwebel in der Kaserne „Piave“ bei Sabaudia. „Neuerdings kommen auch wieder viele zu Truppenteilen, die mit Pferden zu tun haben. Der erworbene Reiterpaß kann nach dem Wehrdienst helfen, bei der Forstpolizei unterkommen.“

An eine Abschaffung der Wehrpflicht denken im Grunde nur wenige. Selbst die Generalität, sonst einer Berufsarmee nie abgeneigt, fügt sich der Realität. „Die ist nicht bezahlbar“, sagt ein Generalstabsoffizier, „die Kassen sind auch für uns schon leer.“ Derzeit sind die Offiziere in vielen Ausbildungsstätten Italiens schon froh, „wenn wir jeden Monat ein paar Schuß Munition bekommen, um unsere Rekruten wenigstens einmal in ihrer Dienstzeit an einem Übungsschießen teilnehmen zu lassen“, klagt ein Feldwebel. Giuseppe Antanio sieht sich wieder einmal bestätigt. „Früher war alles anders. Ich selbst habe mir vor lauter Knallerei einen Hörschaden geholt. Den bekommt mein Sohn Massimo bestimmt nicht beim Schießen – höchstens in der Diskothek.“