Guck mal, wer da spricht Von Andrea Böhm

Mister Hale ist ein ehrenwerter Bürger, der, nehmen wir mal an, pünktlich seine Steuern bezahlt, am Nationalfeiertag immer die Fahne hißt und eigentlich keinen Streit sucht. Mister Tavai war ebenfalls ein ehrenwerter Bürger, der, nehmen wir mal an, pünktlich seine Steuern bezahlt, am Nationalfeiertag immer die Fahne gehißt hat und auch sonst ein prima Kerl war. Letzten Mittwoch kollidierten Mister Hale und Mister Tavai in der Nightingale Street im texanischen Dallas mit ihren beiden Kleinlastern. Der Sachschaden war gering – zwei ramponierte Außenspiegel. Doch Mister Tavai war so empört, daß er ausstieg und Mister Hale ein paar Schimpfworte zubrüllte. Der kurbelte sein Fenster herunter und brüllte ein paar Schimpfworte zurück, worauf Mister Tavai ihn ins Gesicht und auf die Schulter boxte. Mister Hale zog seinen Revolver und erschoß Mister Tavai.

An diesem Vorfall ist nicht der Tötungsakt hervorhebungswürdig, sondern der Umstand, daß Mister Hale gerade erst einen zehnstündigen Kurs zur „Deeskalation und Konfliktbewältigung“ hinter sich hatte – eine Voraussetzung, um im Bundesstaat Texas eine geladene Waffe versteckt mit sich herum zu tragen. Das offene Tragen von Schußwaffen ist in Texas wie in vielen anderen Bundesstaaten seit jeher erlaubt – ebenso der Besitz von Schießgerät im Haus. Doch seit öffentliche Duelle aus der Mode gekommen sind und das Handy den Revolver als weithin erkennbares Accessoire abgelöst hat, sieht man kaum noch ehrenwerte Bürger mit Revolver im Holster. Und wenn, würden sie Gefahr laufen, von der Polizei schnell für unehrenwerte Subjekte auf dem Weg zum Banküberfall oder zum Amoklauf angesehen zu werden.

Damit nun aber auch ehrenwerte Bürger sich im Ernstfall gegen Kriminelle wehren können, haben die Abgeordneten des Bundesstaates Texas mit Unterstützung ihres Gouverneurs George Bush jr. das Tragen von versteckten Waffen erlaubt – vorausgesetzt, man lernt vorher in besagten Kursen, in alltäglichen Konfliktsituationen nicht den „Impulsen des inneren Kindes“, sondern den „rationalen Argumenten des inneren Erwachsenen zu gehorchen“. So steht es im staatlichen Lehrplan. Wie dem auch sei, im Fall von Mister Hale hat es offenbar nichts genützt – auch wenn es ihm jetzt furchtbar leid tut, daß sich an jenem Mittwoch morgen in der Nightingale Street das Kind im Manne durchgesetzt hat. Natürlich gibt es in Texas Leute, die das haben kommen sehen, zum Beispiel die Mitglieder der Organisation „Texans Against Gun Violence“. Sie verweisen auf Statistiken des FBI und des US-Gesundheitsministeriums, wonach das Schußwaffenarsenal in den USA mehr vom „inneren Kind“ als vom „inneren Erwachsenen“ eingesetzt wird: Auf jeden in Selbstverteidigung getöteten Angreifer kommen 130 Amerikaner, die entweder im Streit von Freunden, Familienangehörigen oder Nachbarn erschossen werden, Selbstmord begehen oder bei einem Unfall durch jene Waffen umkommen, die angeblich nur zur Selbstverteidigung gekauft worden sind. Doch wie man am Beispiel Texas sieht, führen solche Zahlen nicht dazu, die Verfügbarkeit von Waffen zu begrenzen. Im Gegenteil. Und wenn's schiefgeht, kann man die Schuld immer auf die inneren Kinder schieben.