„Dann war klar: Wir kommen!“

■ Jo Leinen, ehemaliger Chef des BBU und vielgescholtener „Verräter“: Brokdorf steht für die Spaltung der Bewegung

taz: Heute vor 15 Jahren standen Sie in dem berühmten Sand- Container auf halber Strecke zum Bauzaun des Atomkraftwerks Brokdorf und haben die Demonstranten überredet, brav zu sein.

Jo Leinen: Die Polizei hatte dort eine Container-Sperre aufgerichtet mit massiven Polizeikräften und Wassergräben links und rechts. Für mich war klar, daß wir diese Polizeisperre mit unseren Mitteln nicht überwinden konnten. Nach längeren Verhandlungen mit der Polizei hat man den Demonstranten dann gestattet, einzeln die Sperre zu passieren. Allerdings erst nach einer Leibesvisitation.

Was für uns alle eine ziemliche Schikane war.

Natürlich war das eine Zumutung. Doch angesichts des totalen Demonstrationsverbotes, das über die Wilstermarsch verhängt war, erschien das als eine Lockerung, um überhaupt noch zum Bauplatz zu gelangen. Für die Leitung dieses Demonstrationszuges, also für Roland Vogt und für mich, war es die einzige Möglichkeit. Sonst hätte der Zug umkehren müssen oder wäre vor der Sperre festgefroren.

Sie wollten militante Aktionen verhindern. Müssen wir nicht heute anerkennen – daß die Anti- Atom-Bewegung deshalb so erfolgreich war, weil sie unkalkulierbar war, und sich immer wieder sehr handfest zur Wehr gesetzt hat?

Ich würde zwischen Zivilcourage und Gewalt unterscheiden. Was die Kaiserstühler in Wyhl gemacht haben, war Zivilcourage mit einem Überraschungsmoment. Wir haben dort den Platz besetzt und ihn gehalten. Das war für mich aber ein einmaliger Vorgang. 1977 in Grohnde gab es dann bei der versuchten Platzbesetzung schon brutale und sinnlose Auseinandersetzungen mit der Polizei. In Brokdorf war es vor 15 Jahren völlig unmöglich, den Bauplatz zu besetzen. Er war eingezäunt. Man hat die Armada der Polizei mit ihrem schweren Gerät schon von weitem gesehen. Da war jeder Versuch unsinnig. Leider war sich der Demonstrationszug nicht einig. Ein Teil wollte unbedingt auf den Bauplatz und suchte die sinnlose Auseinandersetzung mit der Polizei.

Sie waren schon vor Brokdorf nicht allzu beliebt. Danach schlug Ihnen der blanke Haß entgegen. Sie waren der ewige Sozialdemokrat, der sich mit den Mächtigen arrangiert. Sie waren der Verräter.

So eindeutig war die Ablehnung meiner Person gar nicht. Im Lager des BBU und vieler Bürgerinitiativen wurde meine Haltung unterstützt. Bei den Autonomen war ich der Gegner. Für mich war zu diesem Zeitpunkt ohnehin klar, daß sich die Anti-Atom-Bewegung spalten wird. Die Trennung war unvermeidbar, weil wir uns nicht mehr einig waren. Brokdorf steht für diese Spaltung, weil es nach Wyhl, Kalkar und Gorleben die erste Demonstration war, ohne gemeinsamen Aufruf, ohne gemeinsame Demonstrationsleitung und ohne gemeinsame Aktionen vor Ort. Es waren eigentlich zwei Demonstrationen in einer.

Viel interessanter als die Demonstration war das Gerangel im Vorfeld: der Streit um das Demonstrationsverbot und die hochgeputschte Alarmstimmung.

Das Demonstrationsverbot von Barschel war unakzeptabel und völlig unmöglich. Ich habe in allen Auftritten dagegen angeredet. Für mich war immer klar, daß wir nach Brokdorf gehen müssen und gehen werden.

Hat Barschel Sie angerufen oder anrufen lassen, um einen Deal zu machen, um Sie zu überreden, die Demonstration von BBU- Seite abzublasen?

Barschel hat natürlich nicht angerufen. Er war ein Hardliner, dem jeder Kontakt mit Demonstranten fremd war. Ich glaube, Barschel wollte sogar, daß es eine gewalttätige Demonstration wird.

Sie hatten Angst vor der Gewalt?

Die Hetze in den letzten Tagen vor der Demonstration war massiv. Deshalb haben mich viele Freunde angerufen, die es für unverantwortbar hielten, in die Wilstermarsch zu marschieren. Meine große Angst war, daß es zu einer Eskalation kommen könnte, daß Demonstranten schwer verletzt werden oder noch Schlimmeres passiert. Da hatte ich wirklich Angst, weil ich mich für das Wohl und Wehe der Demonstranten verantwortlich fühlte.

Am Abend vor der Demonstration hatten Sie Ihren großen Auftritt in der „Tagesschau“. Sie saßen vor einer Bücherwand und riefen trotz Verbot alle AKW-Gegner auf, nach Brokdorf zu kommen.

Ich war zu diesem Zeitpunkt bereits in Wilster. Dort hatten wir Telefonkontakte in die ganze Republik. Wir wollten wissen, ob in Freiburg, Nürnberg, München, Landshut die Leute wirklich mitmachen. Als man uns sagte, daß die Busse überall bestellt und voll besetzt sind, war für mich klar: Es wird eine große Demonstration. Wir kommen! Da gab es kein Zurück mehr. Wir waren natürlich sehr gespannt auf die Reaktion der Polizei. Werden wir überhaupt aus Wilster rauskommen? Wie weit werden Sie uns vorlassen?

Nach der Demonstration folgten die Schreckensgeschichten vom Mordversuch im Wassergraben. Drei Demonstranten, die einen Polizisten geschlagen hatten, wurden, man kann fast sagen steckbrieflich gesucht.

Das war die Fortsetzung der Hetze. Mit dem Bild vom Wassergraben wurde versucht, Mord und Totschlag zu kolportieren. Zum Glück gab es nach der Demonstration dann doch eine große Solidarität, um die Kriminalisierung der Atomgegner zu verhindern.

Hatten Sie sich auf die Seite der beiden Spatenschwinger gestellt?

Ich habe mich vor allem dagegen gewehrt, daß die Teilnehmer wegen Verstoßes gegen das Demonstrationsverbots belangt werden. Die Wassergraben-Situation war für mich einige Wochen lang undurchschaubar, bis dann klar war, daß es eine spontane und kurze Rangelei war, alles andere als Mord und Totschlag.

Der verprügelte Polizist aus dem Wassergraben ist Ihnen später noch oft „begegnet“.

1985 bin ich mit Oskar Lafontaine in den Wahlkampf gezogen. Die CDU hat dann die alten Brokdorf-Bilder rausgesucht und eine Kampagne gegen mich gemacht. Der Polizist aus dem Wassergraben, er stammt aus Becksbach im Saarland, wurde zur Vorzeigefigur gegen den Chaoten Leinen instrumentalisiert. Brokdorf verfolgte mich noch bis in die späten 80er Jahre. Barschel hat mich ja durch drei Instanzen als Rädelsführer angeklagt.

Was ist von der Power der 70er und 80er Jahre übriggeblieben?

Immerhin gab es einige Erfolge. Es wurden nach den 70er Jahren bis heute in der Bundesrepublik keine Atomkraftwerke mehr in Auftrag gegeben. Die Plutoniumwirtschaft ist abgeblasen, der sogenannte Brennstoffkreislauf zur Lachnummer geworden. Auch in Zukunft kann in Deutschland kein neues Atomkraftwerk durchgesetzt werden. Ob die Grünen heute dieselbe Power haben wie früher die außerparlamentarische Bewegung, das darf bezweifelt werden.

Sie arbeiten heute bei Eurosolar und sind, wie man so schön sagt, der Sache treugeblieben. Andere sind mit atemberaubender Geschwindigkeit von links nach rechts an Ihnen vorbeigezogen, sitzen in schicken Büros und erinnern sich feixend an ihre radikalen Glanzzeiten.

Für manche war die Umweltbewegung nicht mehr als eine Episode. Für mich gilt auch heute noch, daß die Energiepolitik ein Schlüssel für den Umbau der Industriegesellschaft ist und bleibt. Ich werde weiter dafür kämpfen, daß wir den Einstieg in das Solar-Zeitalter schaffen. Es gibt heute eine neue Pro-Solar-Bewegung. In den Kommunen schießen die Solar- Vereine und Windenergiegruppen wie die Pilze aus dem Boden. Das ist die logische Fortsetzung unserer alten Anti-Atom-Arbeit.