Mauermarathon

■ Wo die Berliner Mauer stand, würde sich gerne eine Schule erweitern. Wären da nicht rechtliche Fallstricke ausgelegt

Umziehen wär' voll blöd.“ Der Knirps mit den hellblonden Haaren schüttelt energisch den Kopf. Piekst die Nadel in den Stoff, zupft an dem blauen Wollfaden und landet gekonnt einen Kreuzstich. Alles ist reine Natur im Handarbeitsraum der vierten Klasse, die hölzernen Spinnräder, die bunten Wollknäuel, die handgenähten Turnbeutel. Nur eines stört die Idylle: der Container, in dem die Kinder sitzen. Seit Jahren müssen sich die 270 Schüler der Berliner Waldorfschule „An der Mauer“ in den engen Blechdosen unterrichten lassen. Bauen kann die Schule nicht. Denn der Boden, den sie dafür braucht, gehört zum ehemaligen Mauerstreifen. Und den rücken die Alteigentümer nicht heraus.

Rund 1.700 Berliner Grundstücke wurden nach 1961 von den DDR-Behörden enteignet, die hier die Grenzanlagen hochzogen. Die Ex-Besitzer wurden nach Verteidigungsgesetz-Ost entschädigt – mit eher mickrigen Summen. Nach der Wende übernahm dann der Bund die attraktiven Flurstücke. Geschätzter Gesamtwert: eineinhalb bis zwei Milliarden Mark. Für ein Viertel des aktuellen Verkehrswertes, so entschied kürzlich die Bundesregierung, können die Alteigner die Flächen zurückkaufen. Und wo das nicht mehr möglich ist, weil der Staat den Grund schon verhökert hat oder selbst beansprucht, gibt es immerhin eine Entschädigung von 75 Prozent des Verkehrswertes.

„Hehlerei der öffentlichen Hand“, entrüsten sich die Alteigner, die längst eine Interessengemeinschaft gegründet haben und überall gegen ihre „zweite Enteignung“ mobil machen. Unterstützt werden sie dabei von den Berliner Bündnisgrünen, die verhindern wollen, daß die Bundesregierung sich nachträglich am Mauerbau des SED-Staates bereichert. Lautstark rührte auch Berlins Regierender Eberhard Diepgen (CDU) die Werbetrommel für die Alteigner – ohne Erfolg. Die Bundestagsabgeordneten der Berliner CDU stimmten in Bonn gegen sein Votum und verhalfen der Bonner Koalition so zur Mehrheit für einen Verkauf der Grundstücke.

Zufriedengeben wollen sich die Enterbten damit nicht. Im Kielwasser der Berliner Justizsenatorin Lore Maria Peschel-Gutzeit (SPD), die die Bonner Entscheidung „unanständig“ fand, will die Altbesitzer-Lobby den Koalitionsbeschluß jetzt auf Länderebene kippen. Die Grundstücke, so ihre Gesetzesinitiative, sollen den Alteignern in natura, also als Ganzes zurückgegeben werden. Am 1. März wird der Bundesrat sich mit ihrem Antrag befassen.

Für die Berliner Waldorfschule „An der Mauer“ wird das nur eine weitere Etappe auf dem Marathon zum eignen Schulhaus. Sechs Jahre ist es her, daß man Schulleiter Volker Kionke das dreistöckige Gebäude am Grenzstreifen anbot. Der stuckverzierte Altbau aus der Gründerzeit, der am Döblinplatz, auf der Grenze zwischen Kreuzberg und dem Bezirk Mitte, steht, hat Geschichte.

Schon zu Kaiser Wilhelms Zeiten war hier eine Schule. In der DDR wurde das Innere des Hauses dann in Dutzende winziger Zellen unterteilt, wo die Stasi westliches Telefongeflüster abhörte. Als Bürgerrechtler den Laden 1989 stürmten, kippten sie Berge von Akten vor die Tür und warfen die Telefonhörer zum Fenster hinaus. Sie hängen noch immer im großen Baum auf dem Schulhof.

Nur 1.800 Quadratmeter Alteignerland wären nötig, um ihnen die dringend benötigten Gebäude hinzustellen. Und noch im September 1994 versprach die Berliner Landesregierung, sie werde für eine rasche Bebauung sorgen. Bevor die Grundstücke an die Alteigentümer zurückgingen, kämen Investoren zum Zuge. Auch gemeinnützige Projekte, wie Schulen, sollten berücksichtigt werden. Doch im Gezerre um Altbesitz und Restitution bleiben die Mauergrundstücke ein extraharter Brocken. Oft sind die begehrten Flächen durch Dutzende von Händen gegangen, bevor sie für die Grenzanlagen herhalten mußten. Auf vielen Flächen standen Häuser, aus denen die Nazis Berliner Juden vertrieben hatten, manche Gebäude wurden von den „Arisierern“ später verscherbelt oder von den Alliierten nach dem Krieg enteignet.

Bis die verworrenen Eigentumsverhältnisse endgültig geklärt sind, werden wohl Jahre vergehen. In puncto Mauerstreifen hat das Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen bisher noch keinen einzigen Fall geprüft.

Auf den Grundstücken rund um die Waldorfschule geht inzwischen gar nichts mehr. Acht verschiedene Erbengemeinschaften haben Ansprüche angemeldet. Über die ganze Welt sind sie verstreut, leben in Westdeutschland, der Schweiz, Israel und den USA. Einzelne wären zwischendurch zum Verkauf für den Schulanbau bereit gewesen, inzwischen warten alle ab.

„Natürlich wollen wir hier nicht weg“, beschreibt Rektor Kionke die Misere. Eine Dreiviertelmillion Mark haben die Eltern schon in Schulhaus und -hof gesteckt. „Wenn wir umziehen müssen, ist das alles verloren.“ Angeboten hat man den entnervten Anthroposophen jetzt ein Alternativgrundstück am benachbarten Moritzplatz. Komplett neu bebauen müßten sie die öde Fläche, die zudem an einer vierspurigen Durchgangsstraße liegt. Eigenbeitrag der Eltern: 3,4 Millionen. Statt 184 Mark würde ein durchschnittlicher Waldorfmonat pro Kind dann über 300 kosten. „Für viele Familien“, weiß Rektor Kionke, „ist das nicht zu machen.“ Constanze v. Bullion