Leben in der Wärmestube

■ Landgericht sprach Pfarrer frei, der Obdachlosen in Gemeinde anmeldete

Auch eine Wärmestube kann als Wohnung gelten. Mut zu einer großzügigeren Auslegung des Meldegesetzes zeigte die 63. Strafkammer des Landgerichts, die gestern Pfarrer Joachim Ritzkowsky unter großem Applaus der etwa zwanzig Zuhörer vom Vorwurf der Falschbeurkundung freisprach. Damit hob die Kammer in der Berufungsverhandlung die erstinstanzliche Entscheidung auf, nach der Ritzkowsky zu einem Verwarnungsgeld von 2.500 Mark auf Bewährung verurteilt worden war.

Der Pfarrer der evangelischen Heilig-Kreuz-Kirchengemeinde hatte den obdachlosen Manfred Lehmann 1993 unter der Adresse des Gemeindehauses in der Nostizstraße angemeldet. Bis dahin „lebte“ und schlief der kranke Lehmann in einer öffentlichen Damentoilette, ohne Sozialhilfe und ohne Krankenschein. Mit seinem offenen Bein war der Weg zu dem für ihn zuständigen Bezirksamt in Treptow unerreichbar weit. Ritzkowsky erhielt einen Bußgeldbescheid vom LEA, legte Einspruch ein und mußte sich vor dem Amtsgericht verantworten. Doch der Gerichtstermin platzte. Denn das LEA hatte Lehmann wieder abgemeldet, und die Zeugenladung konnte nicht zugestellt werden. Ritzkowsky, der mit der Anerkennung des Gemeindehauses als Meldeadresse Obdachlosen zu ihnen zustehenden Rechten verhelfen will, meldete Lehmann ein zweites Mal in seiner Gemeinde an. Erst dadurch konnte der Prozeß stattfinden.

Die Vorsitzende Richterin, die sich dem Antrag der Staatsanwaltschaft auf Freispruch anschloß, begründete die Entscheidung der Kammer damit, daß der obdachlose Lehmann seinen „Lebensmittelpunkt“ in der Wärmestube gehabt habe, auch wenn er sich dort nur zeitweilig aufgehalten habe.

Kreuzbergs Sozialstadträtin Ingeborg Junge-Reyer (SPD), die gestern als Zeugin bestätigte, daß solche Anmeldungen vom Bezirksamt unterstützt werden, forderte, jeden Ort, „wo sich Menschen zu Hause fühlen, ohne dort ein festes Bett zu haben“, als Meldeadresse anzuerkennen. Ritzkowsky äußerte die Hoffnung, daß der Freispruch, gegen den keine Revision möglich ist, zu Änderungen der Verwaltungsvorschriften beitragen könnte. Sein Rechtsanwalt Hans-Joachim Ehrig wertete die Entscheidung als „Dammbruch“. Er wies aber darauf hin, daß die Landeseinwohnerämter „nicht unmittelbar an die Entscheidung gebunden“ seien. Ob das Urteil zur allgemeinen Verwaltungspraxis werde, werde die Zukunft zeigen. Barbara Bollwahn