Obduktion in rechtlicher Grauzone

■ Im Krankenhaus Neukölln wurden Hunderte Obduktionen ohne Information der Angehörigen durchgeführt

Im städtischen Krankenhaus Neukölln sind bis zum April 1995 ein Großteil von Leichen obduziert worden, ohne daß Angehörige über ihr Widerspruchsrecht informiert wurden.

Wie aus der Antwort von Gesundheitssenatorin Beate Hübner (CDU) auf eine parlamentarische Anfrage des Bündnisgrünen Abgeordneten Bernd Köppl hervorgeht, hat das Krankenhaus Neukölln die Erlaubnis der Angehörigen zur Obduktion seit 1991 immer seltener eingeholt. Von den insgesamt 287 Sektionen im Jahr 1991 wurde in 92 Fällen auf deren Einwilligung verzichtet. Im Jahr 1994 wurden 390 Sektionen von insgesamt 513 ohne Einwilligung der Verwandten durchgeführt. Dies entspricht drei Viertel aller Eingriffe. Wie in anderen Krankenhäusern verfahren wird, ist nicht bekannt.

Der Bündnisgrüne Abgeordnete Bernd Köppl bemängelte, daß das Krankenhaus Neukölln Anweisungen der Senatsverwaltung für Gesundheit nicht eingehalten habe. Diese hatte die pathologischen Abteilungen der städtischen Krankenhäuser seit Jahren angewiesen, Angehörige über ihr Widerspruchsrecht zu informieren. Dennoch hat die neue Gesundheitssenatorin Beate Hübner (CDU) das Vorgehen des Neuköllner Krankenhauses nicht beanstandet. Die Klinik habe „nicht im rechtsfreien Raum“ gehandelt.

Die Klinik beruft sich nämlich auf die sogenannte Widerspruchslösung. Danach können Patienten bei der Aufnahme ins Krankenhaus eine Obduktion verweigern. Wenn der Patient „der Obduktion nicht ausdrücklich zugestimmt hat“, darf die Obduktion erst zwölf Sunden nach dem Eintritt des Todes vorgenommen werden.

In dieser Zeit muß versucht werden, die Angehörigen zu erreichen, um ihre Zustimmung einzuholen. Ob eine Obduktion zulässig ist, wenn die Angehörigen nicht erreicht werden können, ist umstritten. „Das ist eine Grauzone“, erklärte der bündnisgrüne Abgeordnete Bernd Köppl. Die Widerspruchslösung verstoße gegen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten.

Bei Unfallpatienten, denen kein Aufnahmeformular vorgelegt werden könne, gelte jedoch, daß ohne eine Zustimmung der Angehörigen nicht obduziert wird, erläuterte der Verwaltungsleiter des Neuköllner Krankenhauses, Ditmar Lotzkat.

„Wer achtet denn schon bei der Einlieferung ins Krankenhaus auf eine Obduktionsklausel im Aufnahmeformular“, kritisiert auch der Personalrat des Neuköllner Krankenhauses, Volker Gernhardt. „Das ist ein Freibrief.“ Nach Auffassung des Personalrats müsse für eine Obduktion „zusätzlich die ausdrückliche Bestätigung der Angehörigen eingeholt werden.“

Der frühere Gesundheitssenator Peter Luther (CDU) hatte in der vergangenen Legislaturperiode ein Sektionsgesetz für das Land Berlin vorgelegt. Es wurde aber nicht mehr im Gesundheitsausschuß behandelt.

Dennoch hat das Krankenhaus Neukölln Konsequenzen gezogen. Schon seit April 1995 werden Obduktionen nur nach mündlicher Einwilligung der Angehörigen vorgenommen. Verwaltungsleiter Ditmar Lotzkat kündigte gestern an, daß die Klinik in etwa sechs Wochen die sogenannte „Zustimmungsklausel“ einführen werde. Dann geht ohne die ausdrückliche Zustimmung des Patienten gar nichts mehr. „Was fehlt, ist eine gesetzliche Regelung“, stellte Lotzkat fest.

Bei einer Zustimmungslösung ist zu erwarten, daß die Zahl der Obduktionen abnimmt. Pathologen sind dagegen an einer möglichst großen Zahl von Obduktionen interessiert, zumal am Neuköllner Krankenhaus die Schule für Sektionsgehilfen angesiedelt ist. Dorothee Winden