Die Spätaussiedler als politisches Reizthema

■ Sie folgten der Einladung von Zarin Katharina II. und suchten eine bessere Welt. Nun kommen ihre Nachkommen wieder zurück nach Deutschland

Die Geschichte ist uralt. Gut 233 Jahre ist es her, daß deutsche Bauern der Einladung der russischen Zarin Katharina II. folgten. Sie siedelten an der Wolga, im Kaukasus und am Schwarzen Meer. Meist waren sie in der Landwirtschaft tätig. Es ging ihnen gut.

Bis zu dem Tag, als Deutschland die Sowjetunion am 22. Juni 1941 angriff. Hitler hatte seinem Freund Stalin den Krieg erklärt. Für die Rußlanddeutschen begann ein langes Leiden. Stalin trieb sie in Lagern zusammen. Nach 1956 wurden sie zwangsumgesiedelt, noch tiefer in den Osten der Sowjetunion hinein. Deutsche Aussiedler lebten in Kolchosen; manche errangen landwirtschaftliche Leistungsmedaillen, nicht wenige Dörfer standen unter gesellschaftlicher Kontrolle der Auslandsdeutschen. Die Sowjetführung lohnte es mit einer Lockerung des Verbots, deutsch zu sprechen. Die Zeit der Singgruppen war gekommen, sie nannten sich „Morgenröte“ „Lerchen“ oder „Souvenier“, ihre Lieder handelten vom Leben in Rußland und der Ukraine. Wovon auch sonst? Vor mehr als 25 Jahren hinderte noch der Eiserne Vorhang an Urlaubsreisen, Auswanderung in die USA oder Rückwanderung nach Deutschland.

Bundesdeutsche Politiker gaben in den Jahren nach Kriegsende große Versprechen. Sie hielten deutsche Minderheiten in allen osteuropäischen Ländern nach wie vor stark unterdrückt – auch wenn Stalin längst nicht mehr regierte. Die Tore Deutschlands wurden weit geöffnet. Als Deutscher nach dem Bundesvertriebenengesetz gilt, „wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung und Kultur bestätigt wird“. Auch die Kinder und Kindeskinder der Vertriebenen gelten als Deutsche. Sie, die selbst nicht nach Asien verbannt wurden, nennt Horst Waffenschmidt, der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen: „Kinder und Enkel der Erlebnisgeneration“.

Vor allem sie streben seit etwa zehn Jahren in die Bundesrepublik, sie machen 90 Prozent der Spätaussiedler aus. Faktisch war ihnen der Wechsel ja bis zur Gorbatschow-Ära verboten, während damals die Deutschstämmigen aus Polen und Rumänien bereits ausreisen durften. Die Bundesregierung zahlte ihnen sogar Ausreiseprämien. Der Aussiedlerzuwachs aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion erreichte 1990 seinen Höhepunkt, knapp 400.000 Menschen kamen. Seit drei Jahren wird ihre Aufnahme quotiert. Jährlich holt die Bundesregierung 220.000 Aussiedler ins Land. Diese Praxis wird im Kriegsfolgenbereinigungsgesetz geregelt, 1993 verabschiedet – mit den Stimmen der SPD. Demnach wird der Spätaussiedlerstatus noch auf Kinder vererbt, die bis einschließlich 31. 12. 1992 geboren wurden. Nachkömmlinge, die als Erwachsene unabhängig von ihren Eltern kommen wollen, profitieren nicht mehr von diesem Status.

Wie viele werden noch kommen? Eine Frage, die selbst der Sprecher des Bundesinnenministers nicht beantworten kann. „Die Schätzungen bewegen sich zwischen einer halben und vier Millionen. Wir können doch keine Volkszählung machen“, sagt Detlef Dauke. Auch wenn er es nicht zugeben will, insgeheim beschäftigt sich die Regierung längst mit der Forderung, Aussiedler sollten ihre Aufnahmebescheide nur dann erhalten, wenn sie einen Deutschkurs erfolgreich absolviert haben. Dies hatte der SPD-Innenminister von Niedersachsen, Gerhard Glogowski, vorgestern in einem taz-Interview verlangt. Doch vor Ort fehlen die Lehrer. Kaum ein deutscher Lehrer sei bereit, sich nach Sibirien versetzen zu lassen, sagt Dauke gegenüber der taz. Deswegen hat die Bundesregierung vor anderthalb Jahren ein Notausbildungsprogramm an der Universität von Omsk aufgelegt. Dort werden 300 russische Lehrer, die zuvor kein Wort Deutsch sprachen, als Deutschlehrer ausgebildet. Der Erfolg, das weiß auch Dauke, wird noch einige Zeit auf sich warten lassen. „Deutsch zu lernen ist halt sehr schwer.“ Annette Rogalla