Versunken in das Ritual

■ Movimientos –96 mit einem Solo von Alvaro Restrepo eröffnet

Der Stock begleitet ihn überall hin. Auf ihn stützt sich der Mensch, der die Kraft seiner Bewegungen aus der Stille heraus mit einem lauten Ausatmen verstärkt: Hah.

Sparsam geht Lichtdesigner Sergio Pessanha mit seiner Quelle um, das meiste spielt sich im Halbdunkel ab. Schließlich heißt dieses Solo von Alvaro Restrepo Das Land der Blinden und ist der Romanvorlage des englischen Autors Herbert George Wells entliehen. Die Handlung: Ein Sehender kommt ins Land der Blinden. Er nimmt an, er könnte sie regieren, doch die Blinden haben die Erinnerung an das, was sehen bedeutet, verloren. Der Sehende erfährt sich als marginal, seine Erfahrung zählt nicht.

Kolumbien, mit seinen siebzig Stämmen und Sprachen, mit seinen spanischen, indianischen und afrikanischen Einflüssen, ist für Restrepo das Land der Blinden: „Die Leute wissen nicht mehr, was sie eigentlich ausmacht.“ So begibt er sich auf die Spurensuche in die Vergangenheit, zurück in seine Heimatstadt Cartagena de Indias, zurück zu seiner Kindheit und den Ritualen seiner Vorfahren.

Alvaro Restrepo tanzt nicht. Alvaro Restrepo begeht. sucht. vollzieht. Er sieht nicht, aber er findet. Hah. Er öffnet das große Buch mit einem Schlag. Die Seiten sind nur undeutlich zu erkennen, rote Farbe wie Blutsprengsel scheinen darin gepreßt zu sein. Was tut ein Blinder in diesem Falle? Er greift zum magisch-mimetischen Trick und gleicht sich dem Anzunähernden an. Hah. Er preßt seinen Körper zwischen die Seiten. Freiwillig blind gibt Restrepo sich: Immer hat er sein Gesicht vertaut, verstaut, bedeckt, um nicht sehen zu müssen, zu können. Und langsam entdeckt er nicht nur Gegenstände, er weiß auch, was mit ihnen zu tun ist, wie die Dinge zu öffnen sind, die ihren Zauber preisgeben sollen.

Das letzte Rätsel erschließt sich als eingekerkerte Voodoo-Puppe, die Restrepo dupliziert, indem er seinen eigenen Kopf mit Nadeln spickt. Befreit er sich mit diesem Akt? Oder bindet er sich freiwillig an eine erlittene Vergangenheit an? Ist beides gar am Ende das gleiche, fälschlich geschieden nur durch unsere künstlichen Wortschöpfungen?

Immer weiter zurück kehrt Alvaro Restrepo, vom durchsichtig schimmernden Wasser durchs blutige Feuer, von der Erde der Indios zur luftigen Erinnerung seiner Kindheit.

Für die „Rückführung des Tanzes und des Theaters auf dessen kultisch-spirituellen Ursprung“ erhielt der Choreograph bereits 1992 den Mobil-Pegasus-Preis. In seinem neuen Solo bleibt er dieser Qualität treu.

Gabriele Wittmann