Melonen im Computertomograph

Beim diesjährigen Videofest drehte sich alles um Multimedia, CD-ROM und Internet. Video sei vor dem Aus, hieß es. Wo sind die Grenzen von „kunst 1“ und „kunst 2“? Eine Nachbetrachtung  ■ Von Anja Oßwald

Drei Erkenntnisse konnte man vom diesjährigen Videofest mitnehmen: a) Es gibt vieles an neuer Technik; b) Kunst und Technik können durchaus interessante Verbindungen eingehen, aber nicht jeder, der mit Graphikprogrammen umzugehen weiß, ist ein Künstler; und c) Medienkunst ist nicht automatisch Kunst.

Aber der Reihe nach. „Ist Video jetzt kurz vor dem Aus?“ wurde im Vorwort des Kataloges zum 9. Video-Fest gefragt. Die Antwort lieferte man gleich mit, indem man die neuesten technologischen Entwicklungen im Bereich elektronischer Bildgestaltung und -generierung ins Feld führte, die Video als künstlerisches wie auch als Medium der Massenkommunikation vom Markt zu verdrängen beginnen. Daher widmete sich das diesjährige Festival mehr noch als in früheren Jahren den aktuellen Entwicklungen auf dem elektronischen Mediensektor: Computeranimation, neue Formen des Fernsehens (Stichwort: Interaktivität), CD-ROM und Internet. Bisweilen schien es, als ob die Programmgestaltung weniger auf dem Konzept der Fusion verschiedener Bereiche basierte, als vielmehr ein Resultat der wachsenden Unübersichtlichkeit der Medienlandschaft darstellte. So mußte der Besucher mitunter einiges an Geduld aufbringen, um an den Computerterminals im Foyer zum Zappen im Internet zu kommen.

Positive Erwähnung verdient vor allem das von Kathy Rae Huffman und anderen realisierte Projekt eines virtuellen Kunstaustausches zwischen Rußland und „dem Rest der Welt“ mit dem Titel „Siberian Deal“, das den Preis im Feld Intermedia erhielt.

Geduld war auch bei den Installationen junger polnischer Videokünstler vonnöten. Hinter den weitläufigen Fluren des Podewil präsentiert, blieb deren Sinn und Zweck leider gänzlich im Dunkel.

Das Videoprogramm spiegelte mit Titeln wie „einführung in die künstliche intelligenz“, „homo interface“, „body motion“, „körperkult“, „design und internet“ den weiten Themenkreis, der die aktuelle Mediendebatte prägt. Im Rahmen dieses Spektrums wurde der Kategorie Kunst unter der Rubrik „kunst 1“ und „kunst 2“ ein eigenes Ressort eingeräumt. Ging es hier dann doch wieder um eine Grenzziehung zwischen Kunst und dem „Anderen“ (Nichtkunst? Gebrauchskunst?) oder stellte das Motto „Kunst“ schlicht eine Verlegenheitslösung dar, insofern als in diese Rubrik das, was anderswo nicht paßte, Eingang fand? Bei der Betrachtung der dort gezeigten Beiträge gewann man jedenfalls diesen Eindruck.

Abgesehen von Rotraut Papes Videotape „Nicht nur Wasser“, das die Technik des morphing in einer ironischen Geschichte um das Essen vorführte, wo sich Paprikaschoten in Gurken verwandelten, Mohrrüben satellitengleich über gedeckten Tischen schwebten und computertomographische Aufnahmen einen Einblick in das Innenleben von Melonen ermöglichten, war nur wenig zu sehen, das über selbstverliebtes Vorzeigen der Beherrschung neuester Technik hinausging. So ergab sich das Paradox, daß das, was dort unter dem Label Kunst zusammengestellt wurde, zum Schlechtesten des Festivals gehörte. Ironie der Entgrenzungsstrategien?

Kunst ermöglicht auch im Medienzeitalter Einsichten in die uns umgebenden Realitäten, Offenlegen von Beziehungen und Kontexten. Kunst fungiert, wie es Jacques Lacan treffend formuliert hat, als eine Art Schirm, der, indem er Realität abschirmt, diese erst sichtbar macht. Deshalb kann es nicht genügen, die Technik als Selbstzweck zu feiern. Das Zitieren von Duchamp im Rahmen einer virtuellen Landschaftsinszenierung (in „Venise étant donné“ von Yvan Chabanaud) reicht noch nicht aus, um dem Gezeigten ästhetische Relevanz zu verleihen. Am meisten Sinn macht der Umgang mit der Technik, wenn er die mit den technologischen Entwicklungen einhergehenden Veränderungen in Wahrnehmung und Bewußtsein kritisch reflektiert.

Eine gelungene Dokumentation eher privater Art war zumindest „Obsessive Becoming“, eine Familiengeschichte von Daniel M. Reeves. In der collageartigen Verknüpfung von alten Fotos und aktuellen Interviews und synthetischen Manipulationen am Bildmaterial werden Geschichten einer Familie als Geschichte erfahrbar gemacht. Video als Medium der Erinnerung.

Neven Gorda und Zemira Alajbegovic entwickeln in „The Sandcollector“, das den diesjährigen Preis des Festivals im Sektor Video gewann, eine Form der Erzählung, die sich mit dem intimen Charakter des Mediums, seinen introspektiven Qualitäten trifft. Ähnliches gilt auch für die stark autobiographisch geprägten Videos von Sadie Benning, die, häufig mit einer Pixel-Vision-Kamera gefilmt, die geltenden Standards durch low- tech-Ästhetik unterwandern. Auf dem Festival war Benning leider nur mit seinem Videoclip für die Band Come vertreten („German Song“).

In solchen Beispielen eines strukturellen Umgangs mit technischen Parametern liegen meines Erachtens mögliche Perspektiven des Mediums. Video ist nicht kurz vor dem Aus, sondern allenfalls kurz vor dem Overkill. Nicht „das Ende des Unvorstellbaren“ (so der Titel eines Programmteils), sondern der Beginn des Vorstellbaren sollte wieder mehr in den Vordergrund rücken.