Marsch, zurück in die Forschung!

■ Aufruhr bei den FU-Theaterwissenschaftlern: Der Filmbereich wird abgewickelt! Ganz so ist es nicht, aber ein fundamentaler Wandel steht dennoch bevor

Mitten im Berlinale-Trubel schlugen die Studenten des „Instituts für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft“ Alarm: Unter dem Motto „100 Jahre Film sind genug“ luden sie letzte Woche zu einer Pressekonferenz in die Akademie der Künste. Ein etwas übertriebener Titel, denn nicht der Film ist bedroht, sondern der Studienschwerpunkt Film- und Fernsehwissenschaft an der Freien Universität Berlin (FU). Auch gibt es dort gar kein „Institut für Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft“. Jedenfalls nicht nominell. Womit wir uns mitten in jener komplizierten hochschulpolitischen Situation befinden, die die Studenten des Instituts für Theaterwissenschaft zu Recht in Aufregung versetzt.

Berlin gilt Film- und Fernsehwissenschaftlern als das Mekka ihres Forschungsgebiets. Hier ist das Bundesfilmarchiv angesiedelt, es gibt die Stiftung Deutsche Kinemathek, die Deutsche Film- und Fernsehakademie Berlin und auch die Filmfestspiele. Zieht man noch die einzigartige Programmkinolandschaft und die wachsende wirtschaftliche Bedeutung der Film- und Fernsehindustrie in Berlin und Babelsberg in Betracht, scheint es nahezu unbegreiflich, daß es an keiner der Berliner Universitäten ein eigenes Institut für Film- und Fernsehwissenschaft gibt.

An der FU ist der Bereich Film- und Fernsehwissenschaft seit den 70er Jahren immerhin ein integraler Bestandteil des theaterwissenschaftlichen Studienangebots. Ein Konzept, das den Kontext für eine medienübergreifende Forschung garantiert. Nach einem theaterwissenschaftlich dominierten Grundstudium kann man zwischen den Schwerpunkten Film/ Fernsehen und Theater wählen, wobei sich etwa zwei Drittel der Studenten für die Film- und Fernsehwissenschaft entscheiden.

Institutionell reagiert die Universität auf die Beliebtheit dieses Angebots allerdings eher schwerfällig. Erst 1982 wurde eine Filmprofessur eingerichtet, und es dauerte ganze zehn Jahre, bis sie besetzt wurde – mit Karsten Witte. Karl Prümm, der 1986 eine Professur im Fernsehbereich angetreten hatte – dieses Besetzungsverfahren hatte „nur“ vier Jahre gedauert –, war da schon wieder auf dem Abflug. Er folgte 1994 einem Ruf nach Marburg. Seine Stelle wird bis Ende des Sommersemesters 1996 mit Vertretungen besetzt und anschließend für fünf Jahre „geparkt“, wie die Nichtbesetzung im Bürokratenjargon heißt.

Mit dem Tod von Karsten Witte im Oktober 1995 scheint die Ära der Filmwissenschaft an der FU nun einem beinahe schicksalhaften Ende entgegenzugehen. Denn was mit Wittes Stelle geschehen wird, ist angesichts der derzeitigen Sparauflagen unklar. Eigentlich müßte die Wiederbesetzung selbstverständlich sein, zumal die Arbeit Karsten Wittes in beachtlichem Maße zur bundesweiten Reputation des Instituts beigetragen hat. Statt dessen wird die momentane Führungslosigkeit des Film- und Fernsehbereichs im Zusammenhang mit weiteren personellen Veränderungen am Institut zum Anlaß genommen, über eine Neustrukturierung der Theaterwissenschaft an der FU nachzudenken.

Wie FU-Vizepräsident Werner Väth sagt, ist eine Entscheidung über die zukünftige inhaltliche Gestaltung dieser Professur erst mittelfristig zu erwarten – im Zusammenhang mit den Verhandlungen über die Zusammenlegung der theaterwissenschaftlichen Institute an der FU und der Humboldt-Universität. Diese sollen im kommenden Sommersemester fortgesetzt werden, wenn Erika Fischer- Lichte in Nachfolge von Henning Rischbieter die Leitung des Theaterwissenschaftlichen Instituts der FU übernimmt. Die geglückte Berufung dieser einflußreichen Theaterwissenschaftlerin ist ein hochschulpolitischer Erfolg für die FU.

Von Fischer-Lichte wird erwartet, daß sie das theaterwissenschaftliche Institut neu organisiert und einen hier bisher nicht vertretenen Forschungsansatz etabliert: Theatralität als Konzept einer als kulturelle Leitwissenschaft verstandenen Theaterwissenschaft, orientiert an den cultural studies in angloamerikanischen Ländern. Bisher zeichnete sich das Institut durch seine theater- und filmhistorische Forschung aus. Zu den Schwerpunkten der letzten Jahre zählen: Theater im Faschismus, Theater der Antike, Film in der Weimarer Republik, Afrikanischer Film, Europäisches Kino und eine systematisch betriebene Analyse des deutschsprachigen Gegenwartstheaters, des Films und des Fernsehens. Alles in allem eine nah am Gegenstand orientierte Hochschulausbildung, die eine solide Grundlage für eine spätere Berufspraxis bietet.

Der FU-Vizepräsident bezeichnet den ab kommendem Sommersemester wieder mit drei Professoren besetzten theaterwissenschaftlichen Bereich an der FU dennoch bloß als einen „Torso“. Daß eine Bündelung der Ressourcen beider Universitäten zu einem „kompletten“ Institut für Theaterwissenschaft notwendig sei, darüber herrsche zwischen FU und Humboldt- Universität Einigkeit. Bis es zu einer Vereinigung kommt, ist jedoch zu befürchten, daß die angestrebte Stärkung der Theaterwissenschaft auf Kosten der Film- und Fernsehwissenschaft gehen könnte – auch wenn sich die Leitung der FU bemüht, diese Bedenken zu zerstreuen. Immerhin ist für die nächsten beiden Semester eine Vakanzvertretung der Filmprofessur durch Klaus Kanzog aus München gesichert, weswegen die Angst der Studenten, der Film- und Fernsehbereich stehe unmittelbar vor der Abwicklung, zumindest im Augenblick unbegründet ist.

Erika Fischer-Lichte, die die bisherige Struktur des Instituts an der FU in fachlicher Hinsicht für unbefriedigend hält, hat einen weiteren Vorschlag in die Diskussion gebracht: Die jetzige Filmprofessur könnte in eine Professur für medienwissenschaftlich orientierte Theaterwissenschaft umgewandelt werden. Die verbliebenen Film- und Fernsehwissenschaftler des Instituts hingegen wollen die vakante Professur lieber als Grundstock eines institutseigenen Studiengangs Film- und Fernsehwissenschaft verstanden wissen.

Konkurrierende Konzepte also: eines mit kunstwissenschaftlichem, das andere mit kulturwissenschaftlichem Ansatz. Welches sich durchsetzen kann, darüber wird wohl nicht die Nachfrage der Studenten, sondern realistischerweise das Machtkalkül entscheiden. Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet in der Auseinandersetzung um den Fortbestand einer Filmprofessur alte Kämpfe um das Selbstverständnis der Theaterwissenschaft aufflammen. So gesehen hätten die aufgebrachten Studenten ihre Pressekonferenz vielleicht besser unter das Motto „100 Jahre Theaterwissenschaft sind genug“ stellen sollen. Kathrin Tiedemann