■ Der Einstieg in den Ausstieg aus der „klassischen“ Armee
: Wehrpflicht adieu – aber was dann?

Wehrpflichtigenarmee, Berufsarmee oder was sonst? Der Entschluß der französischen Regierung, die allgemeine Wehrpflicht abzuschaffen, verursacht unserer Machtelite Ohrensausen. Ist das ein Feld, wo Linke und Alternative sich erfolgreich einmischen können? Ich glaube, ja.

Seit den Massenaushebungen zur Zeit der französischen Revolution galt der Zusammenhang zwischen Wehrpflicht und demokratischer Staatsverfassung als evident. Aber schon Carnot, der Erfinder der levée en masse, formierte das Volksheer 1792 nicht, um demokratischen Prinzipien zum Sieg zu verhelfen – es gab einfach nicht mehr genug Freiwillige, die die Republik schützen wollten.

In Preußen-Deutschlands Fall ist der Befund ganz eindeutig: Die mit der Aufstellung eines allgemeinen Volksheers gegen Napoleon verbundenen demokratischen Hoffungen wurden unmittelbar nach dem Sieg über Frankreich begraben. Allgemeine Wehrpflicht und preußischer Obrigkeitsstaat vertrugen sich ausgezeichnet. Auch die Wiedereinführung der Wehrpflicht nach Hitlers Machtergreifung war bekanntlich nicht von demokratischen Reformen begleitet. Wenn die marxistische Linke für die Wehrpflicht eintrat, dann nicht, um ihrer staatsbürgerlichen Pflicht zu genügen, sondern um sich für den worst case zu wappnen. Stichwort: Zersetzungsarbeit.

Jetzt geht es bekanntlich nicht mehr um Revolution, sondern um Reform, nicht um Bürgerkrieg, sondern um den Kampf für gesellschaftliche Mehrheiten. Aber die Argumente vieler Links-grün-Alternativer, soweit sie nicht prinzipiell pazifistisch orientiert sind, bewegen sich im gleichen überkommenen Rahmen. Nur die allgemeine Wehrpflicht biete die Gewähr, daß demokratische Verhaltensweisen in der Armee durchsickern, und die militärischen Strukturen demokratischer Kontrolle unterworfen werden können. Berufsarmeen sind Brutstätten des militaristischen Korpsgeistes, unempfindlich gegenüber der öffentlichen Meinung und im Einsatz nur auf Effizienz, das heißt aufs Töten, getrimmt. Dann lieber die Wehrpflichtarmee als kleineres Übel.

Das Problem ist nur, daß die Art von Armee auf geradezu lächerliche Weise ungeeignet ist, irgendwie zu unserer Sicherheit beizutragen. Sie bleibt ihrer Struktur nach eine auf das Territorium bezogene Streitmacht, geschaffen, einen Landkrieg zu führen. Der aber ist, nachdem sich der Feind aus dem Osten spätestens 1991 verabschiedet hat, gänzlich unwahrscheinlich. Was immer den Bundesbürger, sei es zu Recht oder Unrecht, umtreibt – Angst vor ökologischen Katastrophen, vor neuen Völkerwanderungen, vor Terrorismus staatlicher wie privater Provenienz –, weder Nato noch Bundeswehr können ihn beruhigen. Selbst die Drohung mit Massenvernichtungsmitteln seitens zum letzten entschlossener Potentaten oder Gangsterchefs kann von herkömmlichen Streitkräften nicht bekämpft werden. Das ist ein Job für Nachrichtendienste, Polizei und spezialisierte Einheiten.

Und die militärischen Interventionen in Krisengebieten, Bürgerkriegsgebieten zumal? An diesen Aufgabenbereich klammern sich unsere identitätssüchtigen Generale und Militärpolitiker, das ist ihre letzte raison d'être. Dieser Idee folgend, wollen sie die Bundeswehr als Krisen-Reaktionsstreitmacht neu erfinden. Im Kern besagen die Planungen, daß die Wehrpflichtigenarmee künftig, im Nato- Verbund, „vitale“ Interessen der westlichen Industriestaaten schützen soll, wo immer sie weltweit bedroht sein mögen. Aber diese Strategie ist nicht nur politisch abenteuerlich, sie ist mit einer Wehrpflichtigenarmee auch undurchführbar.

Ist damit ein Urteil gefällt über jede militärische Intervention außerhalb der „reinen“ Landesverteidigung? Sind humanitäre und menschenrechtliche Motivation nur Schein, dazu bestimmt, imperialistische Ziele zu camouflieren? Die bisherige internationale Intervention in Bosnien-Herzegowina gemäß dem Dayton-Abkommen spricht eine andere Sprache. Aber nicht nur Friedensinstitute sondern auch militärische Praktiker wissen, daß militärische Aktionen wie diese, wo zahlenmäßig große Wehrpflichtigeneinheiten eingesetzt werden können, stets die Ausnahme bleiben werden. Dafür sorgen Kosten- wie Risikokalküle.

Weit effizienter (und billiger) wäre ein System internationaler Krisenprophylaxe oder wenigstens rechtzeitiger Krisenbekämpfung. Sei es über die UNO direkt, wie von Boutros Ghali in der „Agenda für den Frieden“ vorgeschlagen, sei es über regionale Bündnisse und Zusammenschlüsse.

Streitkräfte, die tatsächlich zur Verhinderung oder zur Beendung von Bürgerkriegen eingesetzt werden, müßten eine gründliche Ausbildung durchlaufen, in der Einfühlung immer vor Draufschlagen stünde. Sie müßten im Konzert mit Technikern und Verwaltungsfachleuten arbeiten, die die zerstörte Infrastruktur wieder aufbauen, sie müßten mit Polizeieinheiten kooperieren, selbst in großem Umfang Polizeifunktionen wahrnehmen. Das erfordert Professionalität, die allerdings auch einer Armee von Zeitsoldaten akkumulieren könnte. Sie aufzubauen schlägt eine Gesetzesinitiative vor, die kürzlich von der Fraktion der Bündnisgrünen im Bundestag eingebracht wurde.

Die Frage lautet also, ob die Bündnisgrünen und Linken in Deutschland es für realistisch halten, sich für eine Freiwilligenarmee einzusetzen, die sich von den Berufsarmeen der Vergangenheit grundlegend unterscheidet. Die neben einer stark heruntergepolten Territorialverteidigung vor allem die Aufgabe hat, Funktionen des Peace-Keeping, des Disengagement und des Wiederaufbaus durch Krieg und Bürgerkrieg zerstörter Länder wahrzunehmen. Wer diese Perspektive als illusionär ablehnt, muß sich allerdings fragen lassen, wie er angesichts Dutzender von Bürgerkriegen weltweit seine linken, das heißt universalistischen Überzeugungen durchhalten will.

Die Zeit ist der gesellschaftlichen Debatte über die Zukunft des Militärs in Deutschland günstig. Das garantierte Feindbild aus dem Osten hat sich verflüchtigt, Finanzmittel fließen nicht mehr automatisch. Die Wehrpflichtigenarmee wird gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert. Die Symbiose zwischen Militärs und Politikern löst sich auf. Richard Falkenrath, US-amerikanischer Militärtheoretiker, warnte kürzlich, daß in Zeiten schwindender äußerer Bedrohung Politiker das Militär zwingen könnten, „innere Reformen um größerer sozialer Ziele oder Bürgerrechte willen durchzuführen“. Eine Freiwilligenarmee ist nicht dazu verurteilt, Staat im Staate zu werden, sie braucht der inneren Logik der Reichswehr nicht zu folgen. Bonn war nicht Weimar, und Berlin muß es nicht werden. Christian Semler