Zehnfache Dosis an Erfolg

■ In der Förderschule Pröbenweg lernen schwache SchülerInnen ihre Stärken kennen: durch offenen Unterricht und Video-Filme Von Patricia Faller

„Geschützte Grünanlage“ steht auf dem Schild vor der Förderschule. Das Idyll im Pröbenweg in Hamm trügt. Der Boden ist mit Schwermetallen vergiftet. Alles andere als geschützt sind auch die Verhältnisse, aus denen die 140 SchülerInnen stammen. Sie kommen aus den sozialen Brennpunkten St. Georg und Rothenburgsort. An ihren früheren Schulen galten sie als „Loser“, weil es am Rechnen, Schreiben oder Lesen haperte.

„Wir haben hier Schülerinnen und Schüler mit sozialen Problemen, chronische Schulschwänzer, Schüler mit ,Klautex', mit Drogenproblemen oder welche, die durch den Strich gefährdet sind.“ Die Litanei könnte der Lehrer Willi Winkelmann noch beliebig erweitern. „Auch von den Crash-Kids waren einige an unserer Schule“, erzählt er. Statt Jugendhaftanstalten aufzustocken, sollte man lieber die Schulen finanziell besser ausstatten. Und mehr neue LehrerInnen, die den Draht zu den SchülerInnen aufrechterhalten, könnten die beste Prävention gegen Jugendkriminalität leisten.

Für seine SchülerInnen ist der 46jährige Lehrer Winkelmann nur „Willi“ – Kumpel und vertraute Bezugsperson. Seit acht Jahren ist er Klassenlehrer einer jahrgangsübergreifenden Klasse, in der SchülerInnen von der siebten bis zur zehnten Klasse vereint sind. „Häufig ist es besser, die Jugendlichen nach gruppendynamischen Verhaltensweisen oder nach ihren Problemen einzuschulen, nicht nach ihrem Alter“, erklärt der engagierte Lehrer und erzählt von einem Mädchen, das früher die ganze sechste Klasse „aufgemischt“ hat und sich bei den „Großen“ jetzt normal verhält. In Mathematik sei sie besser als die vier Jahre älteren MitschülerInnen.

Willi Winkelmann und seine 23 KollegInnen, darunter ein Sozialpädagoge und ein Erzieher, schwören auf offenen Unterricht: Der übliche 45-Minuten-Takt wird aufgelöst, die SchülerInnen suchen sich ihr Lernmaterial selbst zusammen. Der Lehrer fungiert als Berater. „Sie lernen die Grundfertigkeiten wie Rechnen oder Schreiben, ohne daß sie merken, daß sie dabei sind, es zu lernen“, umschreibt Willi Winkelmann die Methode. Beispielsweise indem sie Hamburgs größtes SchülerInnen-Musikfest mit rund 2000 BesucherInnen, fünf Profi-Diskos und 15 Life-Bands organisieren: Einladungen müssen geschrieben und verschickt, Plakate entworfen werden.

Praktisches Lernen ist in der offenen Ganztagsschule also angesagt. Das beginnt bereits bei der Gestaltung der Klassenzimmer. Die Tische, die für Gruppenarbeit angelegt sind, sind selbst gebaut, so daß die Rechner der Computer in die Tischplatte eingelassen werden konnten. An einem der Computer sitzt der 15jährige Bülent und bereitet einen Vortrag vor. Das Thema: Tiere im Dschungel. „Ein Kaiman hat ein großes Maul mit über 100 Zähnen“, ist auf dem Bildschirm zu lesen. Sein Wissen hat er aus einem Jugendbuch und will es an seine MitschülerInnen weitergeben.

So schwach die SchülerInnen in Mathematik, beim Schreiben oder Lesen auch sein mögen, in der Video-Arbeit sind sie stark. 29 nationale und internationale Schüler-Videopreise haben die Förderschüler in den vergangenen sieben Jahren, seit Bestehen der Video-Gruppe, geholt. Dreimal hintereinander wurde ihnen der 1. Preis beim Europäischen Video-Wettbewerb „Up-And-Coming-Cinema“ verliehen.

Willi Winkelmann, der mal Filmdozent werden wollte, machte dabei eine interessante Beobachtung: „Selbst wenn die Schüler auf der Bühne stehen, den Applaus hören und die Preise entgegennehmen, meinen sie immer noch, sie wären nicht gemeint.“ Geprägt durch das ewige „du kannst das nicht“, bräuchten sie die zehnfache Dosis an Erfolg, um diesen zu realisieren und Selbstbewußtsein daraus zu ziehen. Doch wenn sie es begriffen haben, dann seien sie um so ausdauernder, leistungsbewußter und unbequemer.

Anfangs drehten die lernbehinderten Jugendlichen nur witzige Spots. Bis sie eines Tages Aufnahmen über ihre eigene Situation machten: „Warum besuche ich eine Förderschule?“ Dieses Video mit dem Titel „Der Schrei“ hat nicht nur einige Preise gewonnen, sondern gehört zu den bundesweit am meisten gezeigten Schülervideos.

„Wir setzen uns zusammen, machen Vorschläge, und die besten werden ausgewählt“, beschreibt der 16jährige Oeaid die Entstehung der Filme. „Die Themen drängen sich geradezu auf, denn das Leben der Schüler ist so kompliziert und bedroht“, ergänzt Winkelmann. Sein Anspruch: Die Kamera wird nur angefaßt, „wenn wir auch etwas zu sagen haben“. Wie zum Beispiel im Fall des libanesischen Mitschülers Hassan el Mokdad. „Hassan kam in die Schule und erzählte, daß er ausgewiesen werden soll“, erinnert sich Oeaid. „Wir überlegten, wie man ihm am besten helfen kann, und drehten einen Film.“ Unbeirrt rückten die SchülerInnen PolitikerInnen und der Ausländerbehörde mit der Kamera auf den Leib – „Zurück nach Beirut“ wurde ein eindringlicher und begehrter Film. Das Verschicken und Ausliefern übernehmen die SchülerInnen selbst. Auch das ist praktisches Lernen.

Nachdem Diebe unlängst die 12.000 Mark teure Videoausrüstung der SchülerInnen gestohlen hatten, spendete Bürgermeister Henning Voscherau 2500 Mark – über Hassan allerdings verlor er in seinem Lobesbrief kein Wort. Das empört die elfjährige Jasmin noch immer: „Denkt er, er kann uns Kinder mit Geld kaufen?“ Die SchülerInnen wollen Voscherau jetzt das tausendste Video über Hassan zuschicken – als Mahnung.