Lernen in einer virtuellen Firma

■ Berufsausbildung und Abitur an einer Schule – doppelqualifizierende Bildungsgänge setzen sich durch

In der „EFFOS & CO, Sportartikelfiliale“ herrscht geschäftiges Treiben. Aus Mailand geht eine Bestellung über 60 Sporträder ein. Jetzt gilt es, die Formulare für den Transfer auszufüllen, den Warentranssport zu organisieren, den derzeitige Wechselkurs zu ermittelt. Alles läuft wie im richtigen Geschäftsleben abläuft, doch die Ware wird Bremen nie verlassen. Auch die Überweisung aus Mailand wird kein Bremer Herz erfreuen.

Das ganze Szenario spielt in der Übungsfirma des Schulzentrums Utbremen. Seit 1993 nehmen dort alljährlich etwa 25 SchülerInnen am doppelqualifizierenden Ausbildungsgang für „WirtschaftsassistentIn/Fremdsprachen“ teil. Doppelqualifizierend, weil sie nicht nur den Beruf erlernen, sondern gleichzeitig das Abitur machen. Einen Teil ihrer Schulzeit verbringen die SchülerInnen in der Übungsfirma, die am europaweiten Netz „virtueller“ Firmen angeschlossen ist. In Seminaren außerhalb des Schulzentrums lernen die SchülerInnen Teamarbeit in Projekten und üben das Entwickeln neuer, innovativer Marketingstrategien.

Für die zwanzigjährige Tanja Schuhmacher, die im dritten Jahr der vierjährigen Ausbildung ist, war es die richtige Entscheidung. „Ich möchte zwar nach dem Abschluß studieren, doch sollte ich keinen Studienplatz bekommen, habe ich immerhin eine abgeschlossene Ausbildung“. In der Übungsfirma hat sie zur Zeit eine „Stelle“ in der Personalabteilung. Ihre bisher gesammelten Erfahrungen konnte sie beim Praktikum in einer richtigen Firma gut gebrauchen. „Ich durfte dort verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen.“ Nicht jedem ihrer MitschülerInnen geht es so, manche hatten auch Probleme im Praktikum: „Was die Übungsfirma vom richtigen Betrieb unterscheidet, ist der fehlende Konkurrenzdruck. Wenn ich etwas nicht weiß, dann gehe ich zu einer anderen Schülerin. Das würde ich in einer richtigen Firma nicht machen.“

Die Anforderungen an die SchülerInnen des doppelqualifizierenden Bildungsgangs sind hoch. Sie müssen im Vergleich zu normalen Gymnasien ein Jahr länger die Schulbank drücken, und sollten neben ihrer Vorliebe für Fremdsprachen auch ein starkes Interesse am Fach Wirtschaft mitbringen. Am Schulzentrum Utbremen wird außerdem eine dreijährige Ausbildung zum „mathematisch-technischen Assistenten“ mit gleichzeitiger Fachhochschulreife angeboten.

Bremen bemüht sich seit Beginn der90er, doppelqualifizierende Bildungsgänge einzurichten. Mit unterschiedlichem Erfolg. Von den bislang vier Angeboten gelten die Beispiele im Schulzentrum Utbremen als vorbildlich. Denn hier handelt es sich um Vollzeitunterricht, wo die Integration von Theorie und Praxis unabhängig von Ausbildungsbetrieben erfolgt. „Durch die Vermeidung von Doppelungen wird die Gesamtdauer von Lehr- und Schulzeit verkürzt, ohne daß die Qualität der beiden Abschlüsse darunter leidet,“ so Bildungsgangsleiter Achim Ehrenberg.

Da Ausbildungsbetriebe im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen bestrebt sind, ihren Schülern eine wenig zeitaufwendige Ausbildung zu erteilen, hat es die Berufsschule für Elektrotechnik nicht leicht, Schüler für ihren Bildungsgang „EnergieelektrotechnierIn“ mit zusätzlicher Fachhochschulreife zu bekommen. Die Ausbildung erfolgt hier im normalen „Dualen System“. Die Schule ist darauf angewiesen, daß die Ausbildungsbetriebe, die mit den Azubis die Verträge abschließen, mit einer verlängerten Ausbildungszeit einverstanden sind. Besonders seitens kleinerer Unternehmen gibt es aber großen Widerstand. Die Wahrscheinlichkeit, daß ausgebildete Kräfte ausscheiden, um eine höhere Schule zu besuchen, ist durch die Doppelqualifikation höher.

Der Leiter des Bildungsgangs an der Berufsschule, Konrad Schulz-Althof, sieht andere Gründe: „Es gibt in kleineren Betrieben große organisatorische Schwierigkeiten, die die etwas umständlichere Ausbildung nicht möglich machen.“ Ein Problem, mit dem auch das Schulzentrum Holter Feld kämpft. Hier kann in einer dreieinhalbjährigen Ausbildung neben der Fachhochschulreife der Beruf IndustriemechanikerIn erlernt werden.

Die Zentren versuchen jetzt mit Informationsveranstaltungen, ein größeres Interesse bei den Jugendlichen zu wecken, um die etwa 100 Ausbildungsplätze auszuschöpfen. „Durch die Doppelqualifikation haben junge Leute die Möglichkeit einer flexibleren Berufs- und Lebensgestaltung,“ so Schulz-Althoff. Eine Alternative , die unter Jugendlichen noch wenig bekannt ist.

Voraussetzung ist in der Regel der Realsschul- oder ein gleichwertiger Abschluß. „Mit 16 oder 17 Jahren planen SchülerInnen in der Regel nicht langfristig,“ stellte Schulz-Althoff in Infoveranstaltungen fest. .

Das Modell doppelqualifizierender Bildungsgängen, das in Nordrhein-Westfalen schon seit 1972 Tradition hat, wird zunehmend auch in anderen Bundesländer verstärkt erprobt und vom Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft gefördert. Besonders von seiten der Handelskammer gibt es Widerstand gegen die Doppelqualifikation. Im Gegensatz zu größeren Firmen und Unternehmen möchten die Einzelhändler mit der Ausbildung ihres Nachwuchses knapp fahren.

Jochen Schweizer, Oberstudienrat und Mitarbeiter der Bildungssenatorin, sieht im neuen Modell trotzdem große Zukunfsschanchen. „Die moderne Industrie sieht die Doppelqualifikation sehr positiv.“ Auch die normalen Gymnasien könnten viel lernen über praxis- und berufsorientiertes Lehren. In Bremen ist ein weiterer Doppelbildungsgang für Bürokauffrau/mann geplant. Voraussichtlich wird es mit Beginn des nächsten Schuljahres am Schulzentrum Walliser Straße die Lehre aufnehmen.

Luigi La Grotta

Bewerbungsschluß für das Schuljahr '96/'97 am Utbremer Schulzentrum ist der 1. März. .