: Wo kein Zug mehr hält
Kriegsflüchtlinge stranden in der Provinz, wirkliches Leben sorgt für den Rest. David Greigs „Europa“ in der Baracke des Deutschen Theaters ■ Von Gerd Hartmann
Als Wiege der Zivilisation, als Ort des aufgeklärt humanistischen Geistes – so sehen die Europäer ihre grenzenzerfurchte Reichtumsinsel gern – zumindest die, welche auf der richtigen Seite des Zaunes leben. Ein Grenzbahnhof ist deshalb ein stimmiger Ort für den Aufprall von brüchigem Wohlstand und Kriegselend aus der anderen Hälfte. Am Schlagbaum zwischen Ost und West liegt er wohl, dieser gottverlassene Ort. Die Intercitys rasen ohne Halt durch, und ohne daß es im Vorfeld irgend jemand so recht merkt, lassen auch die Bummelzüge das Kaff irgendwann links liegen.
David Greig, 27jähriger schottischer Autor, der seine Kindheit in Nigeria verbrachte, hat sich in der freien englischen Szene schon einige Meriten verdient. Sein 1994 uraufgeführtes und letztes Jahr in Chemnitz erstmals auf deutsch nachgespieltes Stück „Europa“ folgt dem typisch englischen Sozialrealismus. Eine poetische Übertragung der derzeitigen Situation auf dem aufgewühlten Kontinent stellt nur der Handlungsort und der Ausgangspunkt der Geschichte dar.
Sava (Reimar Joh. Bauer) und seine Tochter Katia (Bettina Kurth), Flüchtlinge aus einem unbenannten Kriegsgebiet, sind auf dem Provinzbahnhof gestrandet. Bahnhofsvorsteher (Udo Kruschwald) will die beunruhigenden Fremden zunächst so schnell wie möglich wieder loswerden. Seine Kollegin Adele (Cathlen Gawlich) hingegen sucht den Kontakt, vor allem zu Katia. Adele, frustrierte Ehefrau eines arbeitslosen Säufers, träumt den Traum vom Ausbruch aus dieser kleinen Welt.
Um diese Eckpunkte herum entwickelt Greig ein Drama wie ein öffentlich-rechtliches Fernsehspiel. Rechtsradikale gibt's im Ort, denen eine Fabrikschließung die Leute in die Arme treibt, frustrierte Jugendliche, und kein Aufschwung in Sicht. Derweil nähern sich der Bahnhofsvorsteher (mittlerweile ist sein Bahnhof außer Betrieb) und der Flüchtling an, und auch zwischen den beiden Frauen funkt es. Das dicke Ende bleibt natürlich nicht aus: Fremdenfeindlichen Parolen folgen fremdenfeindliche Taten: Der Bahnhof geht in Flammen auf. Nur die beiden Frauen kommen davon. Liebe ist aus der Annäherung geworden, und sie sitzen im Zug in eine ungewisse Zukunft.
Den geradlinigen Plot verstärkt Greig durch schlaglichtartig kurze Szenen und häufige Parallelmontagen. Theater mit Fernsehdramaturgie, das könnte spannend sein, würde die Brechung, die jeder „Schnitt“ auf der Bühne bedeutet, als verfremdendes Element eingesetzt. Damit hat Regisseurin Katharina Seidel jedoch nichts im Sinn. Die furchtbare Geschichte aus dem wirklichen Leben erzählt sie, und ganz bieder agieren die Schauspielerinnen.
Cathlen Gawlichs lebensträumende Bahnbeamtin kommt daher wie eine Sekretärin, und Bettina Kurth beißt sich kräftig auf die Unterlippe, um die Verletzungen deutlich zu machen, die ihr verhärtetes Flüchtlingsmädchen bei der Odyssee durch Gemetzel und Tod erlitten hat. Starke erotische Anziehungskraft zwischen den beiden behauptet zwar der Text. („Liebe machen“ heißt der Akt in Nils Taberts stelzig zwischen Umgangs- und Hochsprache schlingernder Übersetzung.) Ein schüchterner Kuß ist jedoch das einzige, was dem Zuschauer an frau-fraulicher Erotik zugemutet wird.
Immerhin liefern Udo Kroschwald und Reimar Baur ein recht sensibles Porträt der langsam entstehenden Männerfreundschaft. Ein bißchen unter die Haut in diesem elend gut gemeinten Sarajevo/ Solingen-Verschnitt geht nur der Schlußmonolog des Brandstifters (Thomas Bading). Wenn er nach der Tat mit leuchtenden Augen beschreibt, wie das Fernsehen ihn für einen Moment zum wichtigen Menschen gemacht hat, wird spürbar, wo die interessanten Punkte in solch einem Stoff gelegen hätten.
Ansonsten kommt die böse Wirklichkeit im Abbruchhaus Europa im Pantoffelformat in die DT- Baracke. Betroffenheit fürs Handtäschchen – und der Bereich Zeitstück ist für diese Spielzeit im Dramaturgenkalender abgehakt.
„Europa“ von David Greig, Regie: Katharina Seidel, weitere Vorstellungen: 5.–7. 3. und 30. 3., 20 Uhr, Baracke des Deutschen Theaters, Schumannstraße 13a, Mitte
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