Heilsam für die angekratzte Psyche

■ Fluchtpunkt Kaffeehaus: Walter Vogel unternimmt eine fotografische Reise von Wien bis Lissabon. Sein bevorzugter Platz ist am Fenster, gegenüber der Bar

Mehr als zwanzig Jahre lang hat der Fotograf Walter Vogel die Kaffeehäuser Europas bereist. Nach „Espresso. Caffe-Bars in Italien“ und „Die Schönen der Nacht“ legt er nun mit „Das Café. Vom Reichtum europäischer Kaffeehaus-Kultur“ ein neues Ergebnis seiner Leidenschaft vor – eine subtile fotografische Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlich- kommunikativen Raum von höchster Individualität.

Für Vogel sind Kaffeehäuser „Fluchtpunkte“, Orte der „Ruhe und Abgeschiedenheit“, die eine „die angekratzte Psyche heilende Gesamtatmosphäre“ ausstrahlen. Sein bevorzugter Platz ist der am Fenster, gegenüber der Bar – aus dieser Perspektive eines „kontemplativen Abseits“ gestaltet er das je Besondere, die Magie seiner Räume – in Budapest wie Paris, Warschau oder Berlin.

Nicht nur das Ambiente eines Kaffeehauses beeinflußt die Geschmacksnerven, auch das Angebot – Kaffeekultur beginnt beim Unterschied. Neigt man in Deutschland dazu, „ristretto“ mit „der Arie des Troubadour zu verwechseln“, so taucht die Spezialität in Zürich – wir sind schon näher an Italien! – bereits auf der Getränkekarte auf, um in Mailand oder Turin mit dem „doppio ristretto“ eine weitere Variante zu erfahren. In Wien hingegen lautet die Frage, ob man mit einem „Einspänner“ oder einem „Fiaker“ (oder gar einem „Maria Theresianer“?) in den Kaffee-Himmel abhebt oder sich gleich ins „Hawelka“ aufmacht, jenes Café, in dem sich einst die Creme der Wiener Literaten und Künstler traf.

Einst! Heute begegnen wir dort Alfred Hrdlicka, der sich täglich mit seiner Frau zum Frühstück einfindet – eine etwas blasse Erinnerung an jene Zeit, als das Kaffeehaus noch als Sphäre literarisch-bürgerlicher Öffentlichkeit galt. Eher schon zehrt man werbewirksam vom einstigen Nimbus: Saß nicht Fernando Pessoa „einst“ im „Café A Brasileira“ in Lissabon?

Doch nichts bleibt so, wie es ist. In Prag scheint die vielgerühmte Kaffeehauskultur verschwunden – nur ein altes Emblem erinnert an das „Café Arco“, den Treffpunkt der Prager Literaten. Und nicht nur in Madrid wird über die „Entkernung traditioneller Cafés durch Banken und Fast-food-Ketten“ geklagt: Das mehr als hundert Jahre alte „Gran Cafe Gijon“ mit seinen „durchgesessenen Unterbausprungfedern der samtroten, von Brandflecken gezeichneten Polster“, faszinierend durch seine „von Zeit und Kultur durchtränkte robuste Einfachheit“ – Vogel feiert es in brillanten Schwarzweißfotografien als eine letzte, bedrohte Bastion.

Seine Passion gilt der Einmaligkeit dieser Räume, zu der Ausstattung, Dekoration und Lichtatmosphäre, die Art der Bestuhlung und die Anordnung der Tische und tausend Details beitragen. Vor allem aber die Menschen, die das Kaffeehaus zum Mittelpunkt ihres Lebens gemacht haben: der „Barist Nicola im Caffe-Pasticceria Taveggia in Milano“, die „Signora Antonietta an der Cassa des Caffe Platti in Turin“, der „Herr Ober György im Café Gerbeaud in Budapest, im Gespräch mit einem Gast, der seit 25 Jahren dort zu Hause ist.“ Werner Trapp

Walter Vogel: „Das Café. Vom Reichtum europäischer Kaffeehaus-Kultur“. Ed. Chr. Brandstätter, Wien 1995, 69,80 DM