Rasanter Werteverfall beim Bergvölkchen

■ In Andorra wurde im letzten Herbst die erste standesamtliche Ehe geschlossen

Andorra, zweieinhalb Autostunden von Barcelona und Toulouse, bewahrt seine Unabhängigkeit bis heute dank eines Vertrages aus dem Jahre 1278. Im sogenannten „Parteage“ übernahmen der Bischof von Urgel in Katalonien und der Graf von Foix – später der französische König – gemeinsam die Regierungsgeschäfte. Die Doppelprinzenschaft – co-principado – war geboren.

Nur einmal wäre es fast mit dem System vorbei gewesen, das garantiert, daß keiner der beiden großen Nachbarn sich das kleine Ländchen einverleibt: 1789, als die französische Revolution König und Adel entthronte. Aufgeregt zog ein Delegation des Bergvölkchens gen Norden, nach Paris. Man möchte doch bitte weiterhin das Prinzenamt besetzen, so die Petition. „Prinzen, Adel? Abgeschafft!“, bekamen sie kurz und bündig zur Antwort. Eine sanft streichende Handbewegung über den Hals in Höhe des Adamsapfels verdeutlichte, wie das gemeint war. Erst ab Napoleon ff. übernahmen die Präsidenten der Republik wieder das Amt des Prinzen. Nicht ohne schlechtes Gewissen. Charles de Gaulle war der erste Chef der Grande Nation, der seinen Feudalbesitz besuchte.

Doch auch in den Pyrenäen blieb die Zeit nicht stehen, und das Volk verlangte zaghaft nach mehr Demokratie. Im Jahr 1419 wurde ein Landesrat – Consell de la Terra – ins Leben gerufen. 1866 wurde das Wahlrecht für Familienvorstände, 1933 für alle Männer – und 1970 schließlich gar für die Frauen eingeführt. 1981 hatten die beiden Prinzen ein Einsehen mit ihren treuen Untergebenen. Per Dekret genehmigten sie eine eigene Landesregierung – Govern d'Andorra –, deren Chef vom Consell de la Terra gewählt wird. Der Reformprozeß gipfelte im Jahr 1993 in einer Verfassung.

Die Parteien, die um die Gunst der 10.000 Wähler buhlen, unterscheiden sich kaum voneinander. Sie sind reine Instrumente der mächtigen Familien. Ideologien haben keinen Platz in einer Gesellschaft, in der jeder Unternehmer ist. Fürs Arbeiten gibt es die Immigranten, und die haben weder im Parlament noch im Gemeinderat eine Stimme. Man muß sich 25 Jahre ununterbrochen im Ländchen aufhalten, um in „das gläubige, freie Volk“ aufgenommen zu werden. Spätestens dann sollte der Neubürger die Landessprache Katalanisch beherrschen. Besser noch, wenn er, wie die meisten, auch noch Spanisch und Französisch spricht.

Eine unabdingbare Voraussetzung, um unten im Flachland bei den Nachbarn zu studieren, einen Beruf zu erlernen oder seinen Geschäften nachzugehen. Mit dem Paß in der Hand kann er dann auch endlich ein eigenes Geschäft aufmachen. Vorher brauchte er dazu einen prestnoms – Namensleiher – einen nicht ganz billigen einheimischen Bürgen, der auf allen offiziellen Papieren als Chef fungiert.

Die Verfassung sorgt dafür, daß der Feudalismus auf allen Ebenen allmählich der Neuzeit weichen muß. Daß dies auch unangenehme Folgen hat, wird in Andorra dieser Tage oft kommentiert. Von Werteverfall ist dann meist die Rede. So wurde letzten Herbst die erste Ehe auf dem Standesamt geschlossen. Auch Scheidungen sind nun offiziell erlaubt. Reiner Wandler