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„... weil das doch menschlich ist“

Wenn Mißhandelte zu Denunzianten werden und Mitgefühl zu Schadenfreude wird, ist die Show gelungen: Seit sechs Wochen feiert das gesunde Volksempfinden in der Sat.1-Krawallrunde „Vera am Mittag“ fröhliche Urständ  ■ Von Birgit Glombitza

Werner ist enttäuscht. Dabei hat es noch nicht einmal richtig angefangen. Immer wieder mißt sein Blick die Distanz vom Publikum zur Gäste- bühne. Er beugt sich über den Stuhl des Vordermannes, lehnt sich wieder zurück, legt den Kopf erst auf die linke, dann auf die rechte Schulter, steht auf, setzt sich wieder hin und seufzt. Doch das Zentrum des Geschehens, die Arena, in der wirkliche Menschen beim wirklichen Tratsch über wirkliche Erlebnisse wirklich schwitzen, will einfach nicht näherrücken. „Am Fernseher hat man ja doch mehr davon“, sagt Werner.

Während sich das Publikum noch schnell fernsehfein zurechtzupft, sich über die Fahrt im blau- weißen Bimmelbähnchen durch das verschneite Babelsberggelände, über die enttäuschend provisorisch zusammengenagelte Bühnendekoration austauscht, die aber „bei Ilona Christen auch keinen solideren Eindruck“ mache, und über den langmähnigen Mann amüsiert, der ihnen nun schon zum zweiten Mal das Kaugummikauen untersagt hat, beginnt Andrea mit dem Warm-up: „Ein ausverkauftes Haus macht uns immer viel Freude!“ Kein Klatschen, kein Johlen. Nicht einmal ein Kiekser. So billig sind die 250 Freikarteninhaber nicht zu haben. Irgendwo hat sich jemand geräuspert. „Wunderbar, sie reagieren schon auf mich“, übertreibt die Einklatscherin. Das Räuspern bricht beleidigt ab. Was soll's, Rakete oder mexikanische Welle müssen heute nicht sitzen. Schließlich sollen wir uns diesmal nicht so ekstatisch amüsieren wie sonst. Heute steht das Thema „Totgeburten“ an. Da reicht es, das Aufzeigen „wie in der Schule“ zu üben.

Dann kommt Vera. „Ich bin die Vera, ich bin es wirklich.“ Die ist nicht so barsch und zugeknöpft wie Andrea. Sie ist eine von uns, nur tritt sie eben täglich im Fernsehen auf. Aber dafür scheint sie sich eher zu schämen. Wenn sie unangenehme Fragen stellt wie: „Wie kommt man denn so mit dem Sterben zurecht?“ oder: „Wie verarbeitet man denn so einen sexuellen Mißbrauch?“, kräuselt sie immer die Nase, kneift die Augen zusammen, als müsse sie gerade an Pudding mit Haut denken.

„Diesmal werden wir uns nicht vor Lachen den Bauch halten“, sagt sie entschuldigend und versichert, daß ihre Gäste, die „Erfahrungen mit Totgeburten“ hätten, wirklich alle freiwillig gekommen seien und daß wir keine Angst haben sollten, dumme Fragen zu stellen. „Wenn ich das kann, dann können Sie es auch.“ Sie geht auf Position eins, rückt sich die unauffällige weiße Bluse unter dem unauffälligen dunkelblauen Blaser noch einmal zurecht, bläst die runden Backen noch runder auf und zwinkert ein letztes Mal nervös in die Kamera. Das Auftaktjingle wird abgespult.

Routiniert stellt Vera ihre Gäste vor und das, was sie für eine Stunde interessant machen soll. Chistinas Plazenta-Infarkt, Utes Kaiserschnitt, Hannas Handbuch für „verwaiste Eltern“, einen Facharzt für Neugeborene und zu guter Letzt Claudias Kinderbestattungsunternehmen. Handfeste Tips sind schließlich immer noch unterhaltsamer als pietätvolles Schweigen. Und so wissen wir wenigstens gleich – sollten wir einmal in die mißliche Lage kommen –, wohin wir den kleinen Leichnam geben können. 1.000 Gramm müßte er „allerdings schon haben“. Sonst geht er vielleicht gleich ab in die wissenschaftliche Einmachglassammlung, wie Exvater Jörg zu berichten weiß.

Was tatsächlich mit den zu leichten, toten Babys geschieht, kann Vera auch im Gespräch mit dem Experten nicht klären. Und während sich im Gesicht der Moderatorin der Schrecken über imaginäre Berge sauer eingelegter Babys türmt, empfiehlt die Totengräberin mit sonorer Stimme, daß Eltern ihrer Totgeburt auf jeden Fall einen Namen geben sollten. Nur ein „weiblich“ oder „männlich“ im Totenschein habe doch was sehr Deprimierendes. Fußabdrücke seien auch nicht schlecht, mischt sich die Buchautorin ein, dann könne man sich viel besser von dem fehlenden Familienmitglied verabschieden.

Im Publikum hat unterdessen unverhohlener Ekel die brave Betroffenheit abgelöst. Zu hochgezogenen Nasen und unvorteilhaft verzogenen Mundwinkeln, Kopfschütteln gesellt sich die süße Wohligkeit, die sich immer einstellt, wenn das Elend anderer in kleinen, pikanten Häppchen herumgereicht wird.

Und endlich weht wenigstens ein bißchen von jenem schäbigen Kleingeist, der „Vera am Mittag“ tagtäglich zur Schießbude des kriminell enthemmten Pöbels macht. Wie erst neulich beim Thema „Sind Dicke sexy?“. Da brüllte ein Gast der dicken Rita entgegen: „Das kann doch wohl keiner behaupten, daß 165 Kilo so toll sind!“ Und mußte dafür ein deftiges: „Wenn ich Rock 'n' Roll tanze, dann wackelt wenigstens noch was!“ einstecken. Ein anderer schleuderte der drallen Gitty mit drastischen Schilderungen („Was da im Badezimmer so alles herumschwabbelt“ und „Was man da beim Sex erst mal zu Seite schieben muß“) seinen unzensierten Ekel vor die Füße.

Wenn Vera für Sat.1 den Mittag einläutet, sind bald alle inneren Schweinehunde von der Kette gelassen. Bierlaune und Überhitzung lassen das Publikum trefflich toben. Da wird der Heiratsmuffel, der sein Geld lieber in einen Kleinwagen als in Hochzeitsringe anlegt (Thema „Kopflos in die Ehe“), ebenso ausgebuht wie die abwesende, migränegeplagte Ehefrau („Ich muß sterben – Leben mit dem Tod“), die ihren Gatten lieber zu Huren schickte, als ihren ehelichen Pflichten nachzukommen. Jetzt ist er aidskrank. Und das Saalpublikum hat die Schuldige in Gedanken längst exekutiert.

Ob es um „sexuellen Mißbrauch“ geht (eine Sendung, die von einer männlichen Offstimme mit den süffisant, zynischen Worten „Erinnern Sie sich auch noch so gut ans erste Mal“ angetrailert wurde), ob die Themen „Ehe mit dem Pornostar“, „Die neuen Jungfrauen“ oder „Reporter haben mein Leben zerstört“ heißen, stets rühren Veras Fragen so lange in der Gästetrommel, bis Mißhandelte zu Denunzianten werden, das Böse zu Melodramatischem, das Alltägliche zu Unerhörtem, Exzesse zu Allzumenschlichem und Mitgefühl zu ungebrochener Schadenfreude.

Die Moderatorin sucht sich in diesem emotionalen Tohuwabohu mit bisweilen angestrengter Arglosigkeit vor jeglicher Unbill zu schützen. Ihr könne durchaus auch mal das Mikro aus der Hand fallen, sagt Vera über Vera. „Weil das doch sympathisch ist.“ Sie sei die Patentante, „bei der man sich wohl fühlen soll“, die Normale, die sich „durchaus mal verhaspelt – weil, das ist doch menschlich“, die Gerechte, die „normalerweise ja nicht soviel Redezeit auf einen einzelnen Gast verschwendet – aber du bist mir einfach sympathisch“. Die großzügige Gastgeberin, die „jeden auch mal 'ne komische Meinung haben läßt, weil das doch gut ist, daß er eine eigene hat“.

Manchmal schimpft sie auch, doch zum radikalen Liebesentzug läßt sie es nicht kommen. Während Hans Meiser allzu kühne Thesen mit einem „Das wollen wir jetzt mal dahingestellt sein lassen“ sicher einwattiert, Ilona Christens durchaus mal ein „Na, Sie sind mir ja einer“, entschlüpft oder Fliege uns am Ende mit seinem „Sind wir nicht alle irgendwie ein bißchen ...“ therapeutisch in die moralische Pflicht nimmt, drückt Vera jeden an ihre Brust. Ob Rollmopsdreherin, Star oder Päderast. Bei ihr im Studio sind wir alle zu Hause. Sie bleibt zwischen uns stehen, tatscht jedem aufgeregten Frager schwesterlich auf die Schulter und fragt in den Werbepausen, ob sie noch etwas für uns tun könne.

Ihre Gäste sind mal empört, mal eingeschnappt und heute überwiegend „traurig“ und „betroffen“. Rausgeschnitten wird nichts, „weder schlechte Fragen, noch schlechte Meinungen“. Dieser „Du bist o.k., ich bin o.k., und ich bin Vera“-Impetus macht schon das ganze Sendungskonzept aus. „Ich bin nicht Ilona Christen oder Bärbel Schäfer. Ich bin Vera, das ist der ganze Unterschied“, erklärt die 28jährige Münchnerin, die 1990 zunächst die „Bavaria-Film-Stunt- Show“ moderierte und dann als Einklatscherin das Publikum für Rudi Carells „Herzblatt“, Joachim Fuchsbergers „Ja oder Nein“, Gottschalks „Late Night“ und Fritz Egners „Versteckte Kamera“ aufwärmte.

Jetzt betritt sie die Bühne erst, wenn das Publikum wohl temperiert ist. „Wenn ich mich selbst im Fernsehen sehe, das ist ganz komisch“, sagt Vera zwanzig Minuten vor ihrem Auftritt in der Garderobe, zündet sich eine Zigarette an und bittet die Fotografin, dieses Laster besser nicht zu dokumentieren. „Bin ich das? Ich kann das manchmal gar nicht glauben, daß ich so etwas mache. Dann sehe ich ,Schreinemakers‘ und plötzlich meinen eigenen Trailer und denke, boh, guck mal, das bist ja du!“ Das alles sagt sie mit ihrer heiser-bollerigen Gemüseverkäuferinnenstimme, die sie sich einst in München als Viktualienmarktschreierin erworben hat.

Vera Int-Veen glaubt an das Gute, an den Unterhaltungs- und Informationswert der Talkshows und daran, „daß sie die Menschen wieder miteinander reden läßt“. Sie mache ihren Job „wie jede Friseuse und jede Verkäuferin“. Daß es die Tochter eines Meerbuscher Lebensmittelhändlers bis ins Fernsehen geschafft hat, ist für sie „schon ein kleiner Traum“. Bestimmt drückt sie die halbgerauchte Zigarette aus. Es wird Zeit, das Publikum unten im Studio ist heiß.

Dort wird aus Vera Int-Veen wieder die tägliche Vera, die mediale Inkarnation des Durchschnittsmenschen und aus ihrem mittäglichen Kränzchen eine nachnamenlose Personality-Show des gesunden Volksempfindens. Vera Int-Veen anzugreifen hieße, es sich mit dem Gros der Fernsehnation zu verscherzen, zumindest aber mit den 12,9 Prozent, die sich regelmäßig von montags bis freitags von 12 bis 13 Uhr Vera zum zweiten Frühstück in ihr Wohnzimmer holen. „Wir haben eine irre hohe Quote an jungen Leuten, die nicht zur Schule gehen, Studenten eben“, sagt die ehemalige Politik- und Jurastudentin, die die Uni nach eigenen Angaben „nur selten vor 14 Uhr“ betreten hat.

Nach einer knappen Stunde sind die „Totgeburten“ erledigt, ein paar Minuten Pause, dann wird noch schnell der Trailer aufgezeichnet. „Nehmt den Penner da mal weg“, raunt Chefredakteur Christopher Selbald zur Regie. Nach dem vierten Anlauf ist Veras Ankündigung im Kasten und da Publikum schiebt sich langsam wieder nach draußen zum Bimmelbähnchen.

Diesmal war es „nicht so ganz nach unserem Geschmack“, klagen Frau Zander und ihre Lebensgefährtin aus Bitterfeld. Beide bevorzugen „doch eher die fröhlichen Themen“. Carmen fand es „adäquat“, und Werner ist sich „nicht ganz sicher“. Er will sich erst einmal zu Hause die Aufzeichnung im Fernsehen anschauen, „da kann man einfach besser die Gesichter sehen“.

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