Tschernobyl schafft neue Nager

Mäuse der Todeszone verändert: Wissenschaftler sprechen von einer neuen Art. Tschernobyl wurde zum Eldorado für Mutationsforscher  ■ Von Wolfgang Löhr

Berlin (taz) – Die radioaktive Verschmutzung trägt zum Aussterben von Pflanzen- und Tierarten bei. Diese bisher angenommene These muß nach neuesten Forschungsergebnissen revidiert werden. US-amerikanische Wissenschaftler dokumentierten jetzt zum ersten Mal überhaupt, daß radioaktive Strahlung einen Beitrag zur biologischen Vielfalt leisten kann. Bei Nagetieren in der verseuchten Region von Tschernobyl sind die genetischen Veränderungen schon so weit vorangeschritten, daß man bereits von einer neuen Tierart sprechen kann, die sich durch die erbgutverändernde Wirkung der radioaktiven Strahlung gebildet hat.

Bei den bisherigen Untersuchungen über die katastrophalen Folgen des Kernkraftwerksunfalls in Tschernobyl standen die gesundheitschädlichen Einwirkungen der radioaktiven Strahlung im Vordergrund, vor allem die extrem hohen Krebsraten bei Kindern. Für Überraschung sorgten jetzt die Ergebnisse von zwei US-amerikanischen Genetikern, die in der Umgebung von Tschernobyl verschiedene Nagetierarten vorfanden, die trotz extremer Veränderung der Erbsubstanz überlebten und die neu erworbenen Eigenschaften sogar auf ihre Nachkommen weitergeben können. Wie in der neuesten Ausgabe des New Scientists berichtet wird, haben die Wissenschaftler Ron Chesser und Robert Baker von der Texas Tech University in Lubbock sowie der an der Oklahoma State University in Stillwater arbeitende Ron van den Bussche die Erbsubstanz untersucht, die außerhalb des eigentlichen Zellkerns vorhanden ist. Im Gegensatz zu der Kern-DNA ist die Erbsubstanz in diesen auch als Kraftwerk der Zelle bezeichneten Mitochondrien weitaus weniger vor der erbgutverändernden Wirkung der radioaktiven Strahlung geschützt. Während unter normalen Umständen in jeder Tiergeneration von einer Million DNA- Bausteinen ein einziger ausgetauscht wird, haben die Genetiker bei den untersuchten Mäusen eine um den Faktor 100 höhere Mutationsrate entdeckt, das heißt, daß jedes 10.000ste Basenpaar der Erbsubstanz ist durch die radioaktive Strahlung verändert worden.

Ein Prozeß, der normalerweise unter natürlichen Bedingungen Jahrhunderte oder gar Jahrtausende andauert, vollzieht sich in der Region um Tschernobyl wie im Zeitraffer innerhalb weniger Jahre: Die Bildung einer neuen Tierart. Bei Nagetieren außerhalb der 30-Kilometer-Zone um Tschernobyl sind keine so drastischen Veränderungen des Erbguts feststellbar. Obwohl die Tschernobyl-Tiere sich rein äußerlich überhaupt nicht von ihren unverändert gebliebenen Artgenossen unterscheiden, sind sie genetisch schon so weit auseinander wie Mäuse und Ratten, so Chesser. Das Auseinanderdriften dieser beiden Arten begann vor 1.000.000 Jahren.

Schon frühzeitig entwickelte sich die Region um den Unglücksreaktor zu einem Eldorado der Genetiker. Als erste nutzte die sowjetische Genetikerin Valerie Schewtschenko die einzigartigen Möglichkeiten des „Freilandlabors Tschernobyl“. Schon drei Wochen nach der Reaktorkatastrophe sammelte sie, eingepackt in einem Strahlenanzug, Pflanzen und kleinere Tiere in der hochverstrahlten 30-Kilometer-Zone um den zerstörten Reaktor ein. Die Zeitung Leninskoje Snamja berichtete seinerzeit schon von einem Riesenwachstum und übergroßen Chromosomen bei einigen Pflanzenarten, unter anderem bei Pappeln. Derart extreme Schädigungen wurden aber später nicht mehr gefunden. Viele Pflanzen und Tiere wurden durch die Strahlung so stark geschädigt, daß sie abstarben. In der Pflanzenwelt wurden vereinzelt immer wieder Beispiele gefunden, bei denen eine Schädigung der Erbsubstanz über die Samen auch an die Nachkommen weitergegeben wurde. Von der Entstehung neuer Arten war bisher jedoch nicht berichtet worden. Nach den jetzt vorliegenden Berichten muß aber davon ausgegangen werden, daß in Zukunft noch weitere evolutionsbiologische Überraschungen aus der Tschernobyl-Region gemeldet werden.