Mitleidsloser Einsatz

■ Vier Tage unterschiedlichster Tanz aus Lateinamerika bei der Bagnolet-Plattform „Movimientos 96“ auf Kampnagel

Können wir verstehen, was wir sehen und hören werden, fragte Christina Weiss zur Eröffnung von Movimientos 96 auf Kampnagel. Die Frage von der Möglichkeit interkulturellen Verstehens drängt sich bei einer Veranstaltung wie dieser wie von selbst und verdoppelt auf: 15 Tanztheatergruppen aus acht enorm unterschiedlichen Ländern Lateinamerikas präsentierten ihre Arbeiten in Hamburg. Für zehn dieser Gruppen geht es um die Einladung zu den Rencontres Choréographiques in Bagnolet bei Paris, dem wichtigsten Wettbewerb für Choreographen in der Welt.

Doch es ging auch um Hausgemachtes. Viele der Gruppen werden in ihren Heimatländern finanziell nicht unterstützt, haben kaum Möglichkeiten, ihre Arbeiten zu zeigen und, wie immer wieder betont wurde, Künstler und Künstler-innen aus verschiedenen lateinamerikanischen Ländern haben gerade erst begonnen, Strukturen zu schaffen, die es ihnen möglich machen, sich auszutauschen. Paradoxerweise wurde dies nun in Hamburg möglich, wo Kampnagel und das Internationale Sommertheaterfestival die erste Lateinamerikaplattform im Rahmen des Bagnolet-Wettbewerbs organisiert haben.

Trotz oder vielleicht auch gerade wegen der schwierigen Bedingungen ihrer Arbeit wurde auf Kampnagel ein ungebrochener Wille zur tanztheatralischen Kreativität und Innovation spürbar, der sich in unterschiedlichster Art und Weise im Umgang mit Körper, Bewegung, Sprache und Musik manifestiert, dabei aber nie an Intensität verliert.

Sehr Unterschiedliches war beispielsweise zu sehen im Umgang mit einem ähnlichen Thema, etwa dem immer wieder aufgenommenen Geschlechterverhältnis. Wilson Pico, Choreograph, Tänzer und Wegbereiter des modernen Tanzes in Ecuador, zeigte drei Solos, in denen er Frauenfiguren seines Landes interpretierte. Die tiefe Zuneigung, die er diesen Figuren entgegenbringt, war in seinem Akt des Crossdressing zu spüren, in dem er mit Gesten und Mimik die jeweilige Frauenrolle kennzeichnete. Durch beschleunigte Wiederholung der immerselben Bewegungen brachte er diese Rollen in Bewegung. Was den rotierenden Körper der putzenden und waschenden Hausfrau am Ende noch hält, ist eine Wäscheleine, an der der Körper wie ein Wäschestück hängt.

Los Amores difíciles von der peruanischen Gruppe Integro zeigt zwei Paare, verstrickt durch unvorhersehbare Wechsel zwischen Liebe und Aggression, aber doch immer getrennt. Tisch und Bett sind die Topographien dieses Kampfes, der unter mitleidslosem Einsatz der Körper geschieht. Auch hier werden wieder Konstellationen wiederholt, bis sie sich abschleifen und eine Absurdität zeigen, der kein Ende zu machen ist.

Hier wie in anderen Arbeiten – etwa Toros der argentinischen Choreographen Gustavo Lesgart und Inés Sanguinetti oder Veracruz 36 Grad Celsius der brasilianischen Gruppe Utopía Danza-Teatro – erscheint der Körper in der Hervorbringung von Bewegung in seiner ganzen Materialität. Körper werden fallengelassen oder gehalten, zucken unkontrollierbar, ächzen, keuchen und werden verausgabt, bis man ein Auseinanderfallen erwartet. Körper verstricken sich, um wieder abgestoßen zu werden, Bewegungen finden keinen Halt mehr und stürzen.

Körper eingeklemmt in Stühlen wie in Folterinstrumenten zeigte Neodanza aus Venezuela mit 18 Minutes por 2 1/2 Tiempos'bolo („18 Minuten im 2 1/2 Takt-Bol“), einem Stück, das an Eindrücklichkeit kaum zu übertreffen war. Tänzer mit verbundenem Gesicht, von hartem, stechendem Licht angestrahlt, stammelnd und zuckend, bis Körper und Sprache nur noch Konvulsionen sind.

Eigenwillig war die Performance der argentinischen Gruppe Arnica, Der Augenblick Asche, nicht Diamant, choreographiert von Mabel Chee Chang. Vor weißen Papierbahnen als Hintergrund entwickelten sie ein sonderbar bedrückend-schönes und grausames Spiel an der Grenze von Bedeutung. Für diese wie für alle auf Kampnagel gezeigten Arbeiten mag gelten, daß deren Andersheit vielleicht eher des Sehens bedarf als des Verstehen-Wollens, das sich oft zu schnell wie ein Schleier vor die Netzhaut legt. Elke Siegel