Gekrallte Hände auf der Brust

In einer Woche wird der Prozeß um die Vergewaltigung einer 24jährigen taubstummen Türkin fortgesetzt. Der Angeklagte bestreitet den Vorwurf. Für das Opfer ist der Prozeß eine Qual  ■ Von Plutonia Plarre

Die 24jährige Türkin Sultan B. ist von Geburt an taubstumm. Mit ihrer Umgebung verständigt sie sich schriftlich oder durch Zeichen und Laute. In der Gebärdensprache gibt es für alles eine Geste oder ein Zeichen mit den Fingern. Auch für das, was der jungen Frau im vergangenen Sommer spät in der Nacht in einem Waldstück am Stadtrand widerfahren ist. Zwei gekrallte Hände auf der Brust bedeuten: Ich wurde vergewaltigt.

Dem mutmaßlichen Täter wird zur Zeit im Kriminalgericht Moabit der Prozeß gemacht. Angeklagt ist der 26jährige gebürtige Türke Ali A. Der Maschinenschlosser und Sultan B. kannten sich schon seit einigen Monaten. Die Staatsanwaltschaft legt Ali A. zur Last, die Frau in einer ablegenen Straße an den Haaren aus seinem Mercedes gezogen zu haben. Dann habe er sie unter Faustschlägen an den Kopf und ins Gesicht zu einem nahen Waldstück gezerrt. Dort habe er weiter auf sie eingeschlagen, sein Opfer gegen einen Baum gedrückt und im Stehen vergewaltigt. Als ein Radfahrer vorbeikam, gelang es Sultan B. zu fliehen.

Ursprünglich war der Prozeß auf drei Verhandlungstage angesetzt. Inzwischen sind schon vier Tage verstrichen, ein Ende ist nicht in Sicht. Der Grund: Der Angeklagte verweigerte bis zum vergangenen Freitag die Aussage und überließ seine Verteidigung dem zweifelhaften Geschick zweier Anwälte, die sich seine Familie für ihn leistet. Die Anwälte von Ali A. plädieren auf unschuldig.

Aufgrund der Aussageverweigerung stand bislang das Opfer der Tat im Mittelpunkt des Verfahrens. Zwar verzichteten die beiden Verteidiger bislang darauf, die junge Frau über ihr Sexualleben auszufragen. Das könnte aber auch daran liegen, daß der Vorsitzende Richter Walter Neuhaus geradezu vorbildlich darauf achtet, daß Sultan B. nicht mit solchen Fragen behelligt wird. Die stundenlange Vernehmung zur Vorgeschichte und zu dem angeklagten Vorfall verlangte Sultan B. ohnehin schon genug Kraft ab. Alles, was sie mit Gesten und Lauten bedeutete, wurde von dem Gebärdendolmetscher Manfred Wloka übersetzt. Wloka ist Leiter der Gehörlosenschule Charlottenburg.

Mit gurgelnden Tönen und Hand- und Fingerzeichen berichtete Sultan B., daß sie Ali A. einige Monate vor der Tat am Kottbusser Tor in Kreuzberg kennengelernt habe und mit ihm in seinem Auto mehrfach ins Grüne gefahren sei. Dort habe man sich mittels Notizen auf Zetteln verständigt. „Er wollte, daß sich ein Liebesverhältnis entwickelt, aber mir war es zu schnell“, übersetzte der Dolmetscher. „Er war mir nicht unsympathisch, ich mochte ihn, aber ich wollte erst mal sehen, wie wir uns so verstehen.“ Außerdem sei sie zu dem Zeitpunkt mit einem anderen Mann liiert gewesen, der aber in Westdeutschland weilte. Mit diesem sei sie auch intim gewesen. Aber das habe sie Ali A. nicht erzählt, als er wissen wollte, ob sie schon einmal mit einem Mann geschlafen habe. „Ich war der Meinung, das muß er nicht wissen“, bedeutete sie.

Sultan B. ist eine selbstbewußt wirkende Frau, die in Plateauschuhen, enger Hose, langem Pullover und Lederjacke vor Gericht erschien. Mit zwei Kulturen großgeworden, lebt sie wie viele türkische Berlinerinnen in dem Zwiespalt sexueller Aufgeklärtheit und Freizügigkeit einerseits und strenger Reglementierung durch das islamische Elternhaus andererseits. Wenn sich die 24jährige mit Ali A. traf, versuchte sie erst dem Blick der Mutter zu entschwinden, bevor sie in sein Auto stieg. Daß sie vergewaltigt worden war, hielt sie vor ihren Eltern zunächst geheim: „Dann wäre ich sofort zu Hause rausgeflogen.“

Der Angeklagte Ali A. kam im Alter von sechs Jahren nach Berlin. Er lebt mit einer Türkin zusammen, mit der er einen zweieinhalbjährigen Sohn hat. Seine Lebensgefährtin und seine Freunde saßen an jedem Verhandlungstag im Zuschauerraum. Als die Zeugin Sultan B. die Tat schilderte, versuchte er seine sehr nachdenklich wirkende Lebensgefährtin mit Kopfschütteln und Augenzwinkern aufzumuntern, so als wolle er sagen: alles gelogen. Ali A., der in heller Hose und schwarzem Hemd auf der Anklagebank sitzt, mimt den Coolen. Dabei steht für ihn einiges auf dem Spiel. Er hat schon mehrere Vorstrafen, darunter eine Jugendstrafe wegen sexueller Nötigung einer Nachbarin. Das Gericht verlas einen an seine Eltern gerichteten Brief, den er vergebens aus der U-Haft zu schmuggeln versucht hatte. „Geht zu diesem Mädchen, sie soll ihre Aussage zurücknehmen. Mutter, laß mich hier nicht verfaulen!“

Im Saal war es ganz still, als Sultan B. beschrieb, wie der Angeklagte in der besagten Nacht sie immer wieder in seinem Auto dazu gedrängt habe, mit ihm zu schlafen. Die Erinnerung wühlte die Zeugin sichtlich auf. Die Töne, die sie von sich gab, wurden immer aufgeregter und lauter, ihre Handbewegungen immer fahriger und raumgreifender. Sie erinnerte sich minutiös an den Tathergang, beschrieb genau, wie der Angeklagte sie angeschaut habe, wann er lächelte, wann sich seine Miene verfinsterte. Sie beobachtete so präzise, wie es wohl kaum ein Mensch, der sprechen kann, in einer ähnlichen Lage täte.

Am vergangenen Freitag brach der Angeklagte sein Schweigen. Allerdings nur insofern, als er seine Anwälte eine von ihm in der U-Haft verfaßte Erklärung verlesen ließ. Darin hieß es, Sultan B. habe ihm nachgestellt. Er habe sich ihr gegenüber zunächst vollkommen zurückgehalten, „weil meine Freunde mich auslachen, wenn ich mit einer Taubstummen gehe“. Später habe er sich aber doch auf ein Verhältnis eingelassen. In der besagten Nacht habe er sie lediglich – auf Zetteln – gefragt, ob sie mit ihm schlafen wolle. Denn er habe erfahren wollen, ob sie wirklich, wie zuvor behauptet, noch Jungfrau sei. Als er nicht lockergelassen habe, habe sie geweint und ihm eine Ohrfeige verpaßt. Da habe er sie auch geschlagen, „ohne es zu wollen“. Das sei aber auch alles gewesen.

Inzwischen hat das Gericht einen Antrag der Verteidigung abgelehnt, einen Rechtsmediziner erklären zu lassen, daß eine Vergewaltigung im Stehen nur unter Verletzungen im Genitalbereich möglich sei. Schließlich, so die Verteidiger, würden die Frauen im Film beim Koitus im Stehen auch immer ein Bein hochheben. Anlaß für den Antrag war ein Widerspruch zu einer früheren Aussage von Sultan B. Im Krankenhaus hatte sie zwei Polizisten unmittelbar nach dem Vorfall erklärt, sie sei auf dem Boden liegend vergewaltigt worden. Bei dieser Vernehmung war aber kein Dolmetscher zugegen. Sultan B. und die Beamten verständigten sich auf Zetteln, die nicht mehr existieren. Bei den beiden danach folgenden Vernehmungen in Gegenwart einer Dolmetscherin hatte Sultan B. stets ausgesagt, der Angeklagte habe sie zunächst auf den Boden geworfen. Sie habe sich aber wieder hochgerappelt und er habe sie an einem Baum im Stehen vergewaltigt.

Das Gericht lehnte den Antrag mit der Begründung ab, es könne sich dazu selbst eine Meinung bilden. Mit einem anderen Antrag hatten die Anwälte von Ali A. allerdings Erfolg: Einen Verhandlungstag später forderten sie, Sultan B. erneut als Zeugin zu laden, um sie nochmals zu der Stellung zu befragen, in der die Vergewaltigung erfolgt sein soll. Da Sultan B. inzwischen verreist war, mußte der Prozeß bis zum 11. März vertagt werden. Plutonia Plarre