Urlaubstönung im Gesicht

Schwindel und Staunen: Klammere dich ans Geländer, Käufer! Der Westler sucht in den Galéries Lafayette den Tiefenblick ins Warenwunder, den einst die Ostler vom KaDeWe erhofften. Ob's gelingt, muß vorerst offen bleiben  ■ Von Andreas Seltzer

So geht es dir, Berliner Käufer, wenn du die Tauentzienstraße entlanggehst: Bei Peek & Cloppenburg schaust du beklommen nach oben auf die Wellglasstürze, die tief, wie Eiszapfen, das Haus ummänteln. Sollst du nun deinen Weg unter ihnen fortsetzen oder auf die andere Straßenseite wechseln? Vorsicht! Ducklawinen! scheinen sie zu sagen, und du siehst dich schon zerschmettert in einem Meer von Splittern liegen. Mit hochgezogenen Schultern eilst du weiter und siehst in der Ferne den großgewachsenen Zylindermann vorm KaDeWe patrouillieren. Das ist der Grüßaugust und Türaufreißer, der die Kunden manchmal so streng fixiert und den Kindern, die in ihm gleich den Zirkusdirektor und den Zaubermeister vermuten, mit dem Zeigefinger seiner blütenweißen Handschuhhand in gespieltem Ernst droht: Dich, Knirps, könnte ich im Handumdrehen in einen Regenschirm verwandeln und zu den Sonderangeboten stecken.

Vor irgendwas scheinen die Symbole der Warenwelt zu warnen. Du sollst nicht sparsam sein, mahnen sie vielleicht oder: Vergiß das Gerede und mach Schulden. Wir helfen mit ein wenig Anfangsschwindel nach. Erinnere dich, wie früher, vor der Maueröffnung, die Tanten und Onkel aus Lüderitz und Pasewalk das KaDeWe bestaunen durften und mit aufgerissenen Augen durch die Lebensmittelabteilung liefen. Hier, vor den Toren von Lenôtre und den Vitrinen mit den Wildschweinpasteten und dem Bündner Fleisch sollte doch aus dem Staunen der Wille zur Veränderung werden.

Und als dann der große Schritt vollzogen war und der Osten in den Westen kam, wohin strömte man in Berlin zuerst? Zum Brot und zu den Spielen, ins KaDeWe und in die Sexläden von Sarah Young und Beate Uhse.

Der Eintritt in die Welt der begehrenswerten Sachen fängt mit Verwirrung an. Wo soll ich zuerst hingucken, fragt sich der ungeschulte Käufer und geht zögernd weiter oder bleibt stehen und sucht nach Orientierung. Alles ist so neu und schön und verdoppelt sich vor Spiegelwänden. Es wird von oben, unten, links und rechts mit Lichtern angestrahlt, die die Sachen kostbar machen und den Verkäufern Entspannung und Urlaubstönung ins Gesicht zaubern.

Das sind die Augenblicke, wo der Verwirrte auf der Rolltreppe vergißt, den letzten Schritt zu machen, ins Stolpern kommt und andere Käufer anrempelt. Kinder! Provinzler! – sagen ihm deren Blicke, und das bringt ihn dazu, die letzte Vorsicht zu vergessen, die Geldbörse zu zücken und mit dem Kaufen zu beginnen. Endlich ist auch er Mitglied der großen, glücklichen Kaufgemeinschaft, die um ihn herum so sicher und zielstrebig ihre Wege durch die tausend Angebote findet. Stolz läßt er sich die Einkaufstüte geben. Nun ist die Zeit vorbei, als die Tüten des KaDeWe, von Marlboro und Stuyvesant als Ausweise des besseren Lebens galten. Und er geht weiter mit dem Vorsatz, den Blick fürs Kaufen noch besser zu trainieren. Wohin? Nach Berlin-Mitte beispielsweise, ins neu gebaute Lafayette- Kaufhaus.

In diesem Glaspalast wird er anders als bisher gefordert. Der Schwindel beginnt dort nicht am Eingang, sondern im Zentrum. Da, wo die offene Mitte eines Trichters ist, dessen Innenwände von den Glasfenstern der vier Verkaufsetagen gebildet werden. Blickt er zur Decke, wo Fenster und Teiler schmaler werden, dann zieht der dunkle Scheitelpunkt ihn magisch an: Dagegen hilft noch das Klammern an der Brüstung. Schaut er nach unten, dann scheint auch dieser Halt keine Hilfe mehr zu geben. Stahl und Glas zielen auf ein Spundloch hin, das ihn in den Abgrund locken will. So wird im Erdgeschoß für Höhenangst gesorgt.

Vielleicht flüchtet sich der bedrängte Käufer dann in den dritten Stock, zur Herrenkonfektion, fort vom Tiefenblick, der das Gleichgewicht durcheinanderbringt. Da kann er einen Rundgang machen und sehen, daß hier, anders als in den Kaufhäusern des Westens, das Sortiment sparsam plaziert ist. Die Tische und Verkaufsvitrinen sind schmal und klein, und die Dinge zeigen das Vertrauen, das man in die Überzeugungskraft des Einzelstücks setzt. Tatsächlich wirken die mausgrauen und sandfarbenen Anzüge von Cardin, die marineblauen Blazer und Diors steife Hemden mit den hohen Kragen hier besonders: So, als seien sie nur Schutzbekleidungen gegen die Unsicherheiten der Außenweilt, praktisch und knitterfest. Auch das Freizeitangebot mit dem Krokodil-Emblem und die Jeans von St. Hilaire und Façonnable versprechen unauffällige Verhüllungen, die den Träger adrett und angepaßt aussehen lassen.

Die Betonung des Soliden setzt sich beinah mit jedem Kleidungsstück fort und verändert sich auch nicht bei der Damenkonfektion des zweiten und des ersten Stocks. Da zeigen sich die großen Namen, Dior, Saint Laurent oder Pasquier in blaßgrünen oder lachsfarbenen Kostümen, die mit ihren großen Messingknöpfen einiges zu tragen haben, oder in Taschen und Schuhen aus Lackleder, auf denen Riesenschnallen wie Briefbeschwerer kleben. Und: die Pluderkleider in Graublau und Aubergine, die Plastikmäntel im Pepita- oder Leopardenmuster und die Schwarze Mode von Agnès B. – alles das gehört (so wird geworben) mit den Dingen aus dem Erdgeschoß, den Halstüchern, dem Modeschmuck und den Parfüms zum „Pariser Chic“. Der scheint hier sehr deutlich auf das Dienstleistungsgewerbe und die mittleren Jahrgänge ausgerichtet und liegt, wie es heißt, auf mittlerem Preisniveau. So hat der Käufer, den der Trichtersog in diesem Kaufhaus verwirrte, bei dieser Botschaft recht schnell wieder einen kühlen Kopf bekommen. Er fährt hinab ins Souterrain, wo die Speisen und Getränke sind. Dort gibt es Fisch und Fleisch, Käse und Wein, dort ist das Pastetenparadies und es gibt das Unbekannte: den gefüllten Gänsenacken, die Morchelklöße und die Weißwurstterrine. Und angesichts der Karamelbonbons aus Cambrai und Petits fours findet er das Staunen wieder.