Mit Liegestützen gegen die Lust

Amerikanische Teenager rappen bei Massenveranstaltungen gegen Drogen und Sex vor der Ehe. Warten und Reinbleiben ist die Devise. Ihre „True Love Waits“-Bewegung wächst  ■ Aus Atlanta Andrea Böhm

Die Ordner in der Mehrzweckhalle von Atlanta sehen humorlos aus. Obwohl die Lautsprecher nur eine Armlänge von ihnen entfernt sind und die Bässe jede Rippe vibrieren lassen, verziehen sie keine Miene. Das Publikum drängt zur Bühne. Blasse, verschwitzte Teenager-Gesichter. Viele stecken in übergroßen Jeans und Hemden – wie es die HipHop-Mode vorschreibt. Die Menge ist zur dichten Masse verschmolzen. Die ersten lassen sich auf den Händen der anderen über deren Köpfe tragen. Bodysurfing. Einige landen unsanft vor den Füßen der Ordner, die sie wieder hinter die Absperrung bugsieren. Die drei Rapper hämmern ihren letzten Hit in die Mikros. Beim Refrain sind die Zuhörer kaum noch zu halten. „Jesus is the way, way, way“, dröhnt es aus den Boxen. Zum Abschied werfen die Sänger ihre Wasserflaschen ins Publikum. Unzählige Hände recken sich in die Luft, als gelte es, Andre Agassis Tennis-Shirt zu ergattern.

„DC Talk“ heißt die Band, die nach Ansicht von Christy Jenkins zum besten gehört, was die US- Musikszene derzeit zu bieten hat. Mit 14 Jahren die Erlaubnis für den Besuch eines Rockkonzerts zu bekommen, würde normalerweise eine längere Debatte zu Hause erfordern. Aber in diesem Fall hatten Christys Eltern nicht die leisesten Bedenken. „DC Talk“ ist keine gewöhnliche Band, und Christy Jenkins kein gewöhnlicher Teenager. Das liegt zum einen an der Zahnspange, die ständig funkelt, weil Christy zu vielen Dingen eine Meinung hat, die sie gerne mitteilt. Das liegt zum anderen an dem Goldring an ihrem Finger. Den ließ sie sich vor einem Jahr in ihrer Kirche in Conyers, Georgia, überstreifen, nachdem sie ein Gelübde zur sexuellen Abstinenz bis zur Heirat abgelegt hatte. Ihr zukünftiger Ehemann wird bei der Hochzeit diesen Ring durch den Ehering ersetzen – und umgekehrt. Denn von ihrem Mann erwartet die Schülerin, daß er wie sie „sexuell rein“ geblieben ist. Wieder funkelt die Zahnspange: „Es ist einfach ätzend, wie das in der Schule schon losgeht. Wenn du in der siebten Klasse noch keinen Sex gehabt hast, bist du schon out. Genauso ist es mit dem Saufen und mit den Drogen. Ich hab' da keine Lust drauf.“ Kurze Pause. Dann funkelt es wieder: „Ich finde, dieses Land braucht eine Revival-Bewegung.“ Weitere Erläuterungen werden von zwei Rockgitarren übertönt. Die „Newsboys“, eine Rockgruppe aus Australien, haben die Bühne betreten. Sie spielen Lieder von ihrem neuen Album „Take me to Your Leader“. Der Titel und die Glatze von Lead-Sänger John James könnten im deutschen Kontext mißverständliche Assoziationen auslösen. Doch die „Newsboys“ sind wie „DC Talk“ christliche Musiker.

No sex, no drugs, just rock'n'roll

Mit diesem Auftritt erfüllen sie einen konkreten Auftrag. Die rund 6.000 Zuhörer sind Mitglieder der „True Love Waits“-Bewegung, und haben sich wie Christy „gegenüber Gott, mir selbst, meiner Familie, meinen Freunden, meinem zukünftigen Partner und meinen zukünftigen Kindern“ verpflichtet, „sexuell rein zu bleiben bis zu dem Tag, an dem ich eine Ehe auf Basis der Bibel schließe“. Jetzt toben sie sich zu den Songs der „Newsboys“ aus. No sex, no drugs, just rock'n'roll.

Heute soll ein neuer Höhepunkt der „True Love Waits“-Bewegung in die Annalen der Geschichte eingehen. Organisiert von Jugendpfarrern haben Christy Jenkins und andere Teenager 350.000 Abstinenz-Gelübde aus den USA und dem Ausland gesammelt. Die Karteikarten sind auf einem Seil aufgezogen, das wie ein bunte Luftschlange von der Decke des „Georgia Dome“ baumelt. Ein neuer Rekord. Bei der letzten Veranstaltung im Juli 1994 in Washington pflanzten 22.000 Jugendliche über 200.000 Kärtchen in den Rasen zwischen US-Kapitol und Weißem Haus – und damit in Sichtweite Bill Clintons, den viele im Georgia Dome als Hindernis auf dem Weg zur moralischen Erneuerung des Landes ansehen.

„Wartet ihr auch wirklich“, dröhnt „DC Talk“-Sänger Michael Tait ins Mikro. „Ja“, schallt es zurück. Warten ist keine schlechte Idee, aber warum soll man nicht mit jemandem schlafen dürfen, den man ohne Trauschein liebt? „Weil mein Körper Gottes Tempel ist“, sagt Christy und verschwindet in der Menge. Der „Christian Sex Education Set“, für 35.95 Dollar am Infostand im Stadion erhältlich, erklärt alles weitere: Sex ist ein „Geschenk Gottes“, die Ehe eine unabdingbare Voraussetzung, weil nur so die Liebe zum Partner als Liebe zu Gott „gelebt“ werden kann. Voreheliche Lust „mußt du bekämpfen“, sagt der 17jährige Tony Ariniello, der etwas nervös hinter der Bühne auf und ab tigert. Weil er einen Aufsatzwettbewerb für die christliche Jungenzeitschrift „Breakaway“ gewonnen hat, darf er heute eine Rede über Abstinenz halten. In seiner High-School in Colorado hat er mit einigen Freunden eine angeblich effektive Methode zur Triebkontrolle entdeckt. „Jedes Mal, wenn einer von uns ein Mädchen lustvoll anguckt, muß er zehn Liegestütze machen, um sich innerlich zu reinigen.“ Tony hat einen ziemlich muskulösen Oberkörper, aber der, sagt er, kommt vom Football-Training.

„True Love Waits“, so schreibt die Zeitschrift „Newsweek“, sei das 90er Jahre-Äquivalent zum Anti-Drogen-Slogan „Just Say No“, den vor allem Nancy Reagan in den 80er Jahren in Umlauf brachte. Doch der Trend zur Enthaltsamkeit war nie ein Monopol der christlichen Konservativen: Viele US-Teenager entschließen sich ohne göttlichen Beistand gegen Sex. Angst vor Aids und Schwangerschaft spielen ebenso eine Rolle wie Widerstand gegen Cliquendruck. An so manchen High-Schools kursieren „Trefferlisten“ unter Jungen, während Mädchen Stunden damit zubringen, bei der Auswahl von Partykleidung nach der feinen Linie zwischen „Hey-ist-die-cool“ und „Die- treibt's-mit-jedem“ zu suchen.

Der „all-American boy“ ist, statistisch betrachtet, beim ersten Geschlechtsverkehr 16.6 Jahre alt, das „all-American girl“ verliert mit 17.4 Jahren ihre Jungfräulichkeit. Darin dürften sie sich von ihren Altersgenossen in Europa nicht allzusehr unterscheiden. Das Problem liegt vielmehr in einem eklatanten Mangel an Wissen und Vorsicht. Jährlich ziehen sich drei Millionen Teens in den USA Geschlechtskrankheiten zu, eine Million Mädchen unter 18 werden schwanger, wobei die Zahl seit 1991 allerdings stetig sinkt. Ein Drittel von ihnen treibt ab. 20 Prozent aller Aids-Infizierten sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Viele von ihnen dürften sich als Teenager infiziert haben. Das Thema „Teenager und Sex“ ist inzwischen zu einer Art Staatskrise erklärt – und dabei mehr zu einem politischen Spektakel denn zu einer ernsthaften Debatte geworden.

US-Präsident Bill Clinton predigt Abstinenz

Die Leiterin der staatlichen Gesundheitsbehörde, Jocelyn Elders, mußte auf Druck konservativer „Republikaner“ im Kongreß ihren Hut nehmen, weil sie Worte wie „Kondom“ und „Masturbation“ im Zusammenhang mit Aids-Prävention bei Jugendlichen benutzte. Bill Clinton hat Schwangerschaften unter Teenagern zu einem „nationalen Problem“ erklärt und predigt aus Rücksicht auf das konservative Klima Abstinenz. Hillary Clinton hat in ihrem jüngsten Buch „It Takes A Village“ empfohlen, vor dem 21. Lebensjahr ganz die Finger vom Sex zu lassen, weil die Jugend mit den „Risiken einfach noch nicht umgehen“ könne.

Ob amerikanische Teenager, die ihren Wunsch nach Hautkontakt nicht durch Liegestütze kompensieren wollen, damit geholfen ist, bezweifelt Nell Bernstein, Herausgeberin des Jugend-Magazin YO! in San Francisco. Jugendliche „lernen eigentlich nur noch, daß Sex gefährlich oder gar tödlich sein kann.“ Von Seiten progressiver Erwachsener würden sie mit Kondomen und Informationen über Aids, Schwangerschaft und sexuelle Gewalt eingedeckt, von konservativen mit Abstinenzpropaganda. Bernstein hält beides für unentbehrliche Bestandteile einer Sexualaufklärung. „Aber irgendwann muß man ihnen erklären, daß Sex etwas Wunderschönes sein kann.“

Richard Ross hat es da, zugegebenermaßen, etwas einfacher. Für ihn und seine Schützlinge im Georgia Dome ist alles durch Gott geregelt. Im April 1993 hat der Baptisten-Pfarrer mit 59 Jugendlichen seiner Gemeinde in Nashville, Tennessee, „True Love Waits“ gegründet. Inzwischen haben sich 39 christliche Organisationen und Denominationen angeschlossen. Über die „Baptist World Alliance“ wird die Bewegung auch ins Ausland getragen. Mit seinem biederen Haarschnitt, seinem unscheinbaren Gesicht und seinem Südstaatenakzent paßt er scheinbar überhaupt nicht in das Bühnengewimmel aus langhaarigen oder kahlgeschorenen Musikern.

Doch der 46jährige ist inzwischen sowohl ein Star der christlischen Medien als auch der „weltlichen“. Die New York Times und USA Today haben ihn interviewt. Sogar MTV hat ihn schon ins Studio gebeten – jener Sender, den er und seine Teenager für die „Sexbesessenheit“ und den „Moralverfall“ ihrer Nation mitverantwortlich machen. Sich selbst sieht er als „Werkzeug Gottes“. „Von Stunde zu Stunde wird mir immer klarer, daß wir die Einzelheiten eines Planes entdecken, den Gott geschmiedet hat.“ Glaubt man Ross, so befinden sich die USA auf dem Weg in eine „post-christliche Gesellschaft“, die durch das reinigende Gewitter einer „Revival-Bewegung“ aufgeschreckt wird.

Dahinter steckt die theologische Schule des Postchiliasmus, wonach sich die Welt durch eine Erweckungs- und Reinigungskampagne auf die Rückkehr Jesu Christi vorbereiten muß. Postchiliasmus ist der Motor hinter dem Aufschwung der christlichen Rechten in den USA. Richard Ross hat sein Aktionsfeld mit „True Love Waits“ gefunden. Unter tosendem Beifall ruft er die Jugendlichen dazu auf, an ihren Schulen zu beten und andere davon zu überzeugen, dem göttlichen Plan beizutreten und ein Abstinenzgelübde zu unterzeichnen.

Der Moderator, einer der wenigen Schwarzen bei der Veranstaltung, hilft mit ein paar Slogans nach: „Jungens, laßt den Reißverschluß zu. Mädchen, kneift die Beine zusammen.“

Nach einem Gebet, in dem um Gottes Kraft für die bevorstehende Mission ersucht wird, strömen die Kids dem Ausgang zu. Für den Abend haben die „Promisekeeper“ die Halle gemietet – jene „Revival“-Bewegung christlicher Männer, die sich in Massengottesdiensten versprechen, Gott und ihren Ehefrauen treu zu bleiben. Tony Ariniello ist bereits Mitglied – im Wartestand. Seine Rede über Lust und Liegestütze war ein voller Erfolg. Jetzt steht er an der Bühne und gibt Autogramme.