Wühltisch
: Vom Niedergang des Hausierens

■ Am liebsten Pröbchen: Was ist aus der netten Avon-Beratung geworden?

In den frühen sechziger Jahren war der Hausierer eine weithin geachtete Persönlichkeit. Gegen ein geringes Entgelt schliff er Messer und Scheren, außerdem führte er allerlei nützliche Dinge mit sich wie Gummiringe, Heftzwecken und Bürsten. Mit dem Siegeszug der Supermärkte kam der Hausierer in Verruf. Seine Stecknadeln, hieß es, seien drastisch überteuert. War es zuvor jahrelang ein- und derselbe Hausierer gewesen, so lastete jetzt eine starke Fluktuation auf dem Gewerbe. Manch einer wirkte äußerlich ungepflegt, andere waren alkoholisiert. Wir Kinder erhielten die Anweisung, Hausierer nicht mehr einzulassen.

Der Phänotyp des Hausierens veränderte sich. Als bekannteste Version behauptete sich schließlich die Avon-Beraterin. Sie kam mit Köfferchen, guten Manieren und sehr viel Zeit. Geduldig führte sie ihr Sortiment vor, und schon aus Gründen des Anstands kaufte Mutter Lippenstift oder ein kleines Parfumfläschchen. Gewiß legte sie Wert darauf, beim nächsten Mal die neue Duftnote kennenzulernen. Am liebsten probierte Mutter natürlich die Pröbchen.

Die Avon-Beraterin verrichtete ihre Tätigkeit mit der Geduld und Diskretion einer Bankangestellten. Dieser glich sie auch äußerlich. Sie achtete sorgfältig auf die Zeitabstände ihrer Besuche, um die Gefälligkeitskäufe nicht zu gefährden. Aber irgendwann war die Luft raus. Hausieren war primär kein Handel mit Konsumgütern. Anfangserfolge entsprachen dem Niveau anerkannter Höflichkeitsnormen. Die Abnahme kosmetischer Artikel war der Preis für Unterhaltung und Beratung. Zunächst gefielen Mutter die geselligen Nachmittage, schließlich wurde sie der immer gleichen Kommunikation überdrüssig. Die Avon-Beraterin wie den Hausierer mit Gummiringen und Bürsten nicht mehr einzulassen fiel ihr aber schwer.

Es muß in der Folgezeit zu unbefriedigenden Verkaufsergebnissen gekommen sein. Der Beratungsverkehr kam völlig zum erliegen. Parfum, Seife und Lippenstift gab's in der neuen Drogerie ohnehin billiger, wo Mutter die Besitzerin kannte. In der Nachbarschaft traf man sich derweil auf den berühmten Tupper-Partys, die einem Avon-ähnlichen Vertriebsprinzip verpflichtet waren, zusätzlich jedoch auf Geselligkeit setzten. Bald waren die Haushalte der Umgebung mit dem Basissortiment von Tupperware hinreichend ausgerüstet. Für weitergehenden Schnickschnack war diese Nachkriegsgeneration von Hausfrauen allerdings nicht zu haben.

Es gibt sie noch, die Tupper- Partys, nur finden sie nicht mehr im Nachbarschaftskreis statt. Längst haben sie Frauenarbeitskreise und junge Elterngruppen erreicht. Zur fröhlichen Schatullenschau trinkt man Kräutertee und ißt Umweltkekse. Beratungsgespräche aller Art finden nebenbei statt. Irgendeiner Profession gehört jede an, niemand ist mehr nur Hausfrau. Die ausgefeilteste Form des Hausierens hat jedoch der amerikanische Amway-Vertrieb errichtet. Nach der Wende startete man vor allem in den neuen Ländern große Initiativen. Amway freilich wirbt nicht für Produkte, Kosmetik, Körperpflege- und Haushaltsreinigungsmittel. Das Vertriebsunternehmen macht sich um die Steigerungsrate kleiner Gewerbetreibender verdient. Das Ganze funktioniert nach dem Schneeballprinzip etwa so: In Erwartung von Absatzerfolgen im erweiterten Bekanntenkreis kaufe ich Amway- Produkte in überschaubaren Mengen. Ziel meines angemeldeten Gewerbes ist nun jedoch nicht allein der Weiterverkauf der Produkte, sondern das Anwerben neuer Verkäufer. Am Umsatz meiner Schützlinge bin ich prozentual beteiligt.

Amway läßt mich und meinesgleichen nicht mit dem Geschäft allein. Mit Schulungsnachmittagen im Thüringischen, in Stil und Atmosphäre einer gigantischen Tupper- Party vergleichbar, fördert Amway meine Werbe- und Verkaufstechniken. Besonders erfolgreiche Anstrengungen werden mit Anerkennung und Orden gratifiziert. Wer es zur diamantenen Nadel gebracht hat, ist fein raus. In unseren Gründerzeiten hat das Hausieren Chancen, wieder gesellschaftsfähig zu werden. Es gibt Versicherungskonzerne, die mit ganz ähnlichen Prämierungspraktiken große Erfolge verzeichnen. Nur bei denen ganz unten will der Schneeball nicht ins Rollen kommen. Sie stehen mit ihren Köfferchen vor verschlossenen Türen. Selbst die besten Freunde gewähren nur noch Einlaß, gesteht ein glückloser Hausierer, wenn ich verspreche, mein Gewerbe nicht zu erwähnen. Der Mann ist wahrlich ein Fall für eine Banktherapie. „Reden Sie mit uns.“ Harry Nutt