Der Deutschen Bahn fehlt der Fahrplan

Die Deutsche Bahn AG steuert mit milliardenschweren Investitionen und massivem Personalabbau in eine Zukunft mit roten Zahlen. Die Konzepte für den Güter- und Personenverkehr sind in sich völlig widersprüchlich  ■ Von Florian Marten

In der Chefetage der deutschen Bahn herrscht Uneinigkeit: Welchen Weg soll das Unternehmen mit seinen 330.000 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 30 Milliarden Mark demnächst befahren? Will das „Unternehmen Zukunft“ mit neuen flächendeckenden Angeboten die Verkehrszukunft des 21. Jahrhunderts prägen? Oder gilt es, als „schlanke Bahn“ Ballast abzuwerfen und sich beim Güter- und Personenverkehr aus der Fläche zurückzuziehen, um im Wettbewerb der Schienenverkehrsmärkte profitabel bestehen zu können?

Alle Geschäftsbereiche des Verkehrsriesen geben widersprüchliche Signale: Mal bastelt der Bereich Fahrweg an der Konzeption eines wegweisenden „Netzes 21“, das die intelligente Nutzung fast aller etwa 40.000 deutschen Schienenkilometer und den Abschied von überteuerten Neubauvorhaben im Hochgeschwindigkeitsverkehr vorsieht. Dann heißt es wieder, an jeder ICE-Neubaustrecke müsse festgehalten werden – koste sie, was sie wolle. Der Geschäftsbereich Güterverkehr verkündet einerseits neue, intelligente Lösungen für flächendeckenden Gütertransport; andererseits will sich die Bahn künftig nur noch auf wenige profitable Achsen zwischen den Ballungsräumen beschränken, heißt es. Auch beim Nahverkehr herrscht Verwirrung: Zum einen ist vom Schmuckkästlein des Konzerns die Rede. Dann wieder soll der Nahverkehr zerstückelt und an private Konkurrenten ausverkauft werden.

Wichtige Grundsatzentscheidungen werden nicht getroffen: Schrumpfbahn oder Wachstumsbahn, dezentralisierte Bahn oder Einheitsbahn, vollautomatische High-Tech-Bahn oder eine Bahn mit auf Probleme zugeschneiderten technischen Lösungen, Hochgeschwindigkeitsbahn oder Mobilitätsbahn, Kooperation mit Konkurrenten oder knallharte Verteidigung der althergebrachten Monopole – derzeit schwankt die Konzernpolitik zwischen allen Polen ständig hin und her.

Bahnchef Heinz Dürr, dem es bislang nicht gelungen ist, an der Konzernspitze einen schlagkräftigen Braintrust und kreative Gemeinsamkeit zu etablieren, verbirgt die internen Probleme nach außen mit einer Mischung von sorgenvollem Stirnrunzeln und Stehaufmännchen-Optimismus. So zum Beispiel, als er am 28.Februar in Berlin die Bilanz 1995 präsentierte: In einem schwierigen Gesamtumfeld und trotz konjunktureller Einbrüche im Güterverkehr habe sich die Bahn AG im Jahr zwei ihrer Existenz als privatrechtliche Aktiengesellschaft „gut behauptet“. Mit einer Investitionsoffensive in den nächsten fünf Jahren von knapp 80 Milliarden Mark, davon 51 Milliarden Vorfinanzierung aus der Bundeskasse, gedenke man die Herausforderungen der Zukunft zu bestehen.

Grundsatzentscheidungen müßten rasch fallen

Für eine derartige Politik des „Schaun mer mal“, so mahnen immer mehr Kenner der Materie, fehlt der Bahn die Zeit. Der Gießener Wirtschaftswissenschaftler Gerd Aberle, „Vater der Bahnreform“ und konservativer Kaiser der deutschen Verkehrswissenschaft, mahnte dieser Tage: „In den Jahren 1997/98 wird sich die wirtschaftliche Situation der Deutschen Bahn AG wesentlich erschweren.“ Aberles Diagnose läßt keinen Zweifel: 1994 und 1995 hat die Bahn noch von der gigantischen Entschuldung und einem raffinierten Bilanztrick profitiert, mit dem das Anlagevermögen von 99 Milliarden auf bescheidene 25 Milliarden Mark abgewertet wurde. Dies half laut Aberle die „wirkliche Situation im Jahresergebnis aufzuhellen“.

Die Auswirkungen dieses genialen Taschenspielertricks, der der Bahn nicht ausgewiesene Reserven in zweistelliger Milliardenhöhe sicherte, werden in den kommenden Jahren aber schrumpfen. Dann schlagen die Kosten der Investitionen immer stärker zu: Zinsen, Tilgungen und Abschreibungen. „Die Frage ist, inwieweit die Bahn diese Belastungen durch Erlössteigerungen und Einsparungen kompensieren kann“, so Aberle.

Das Negativbeispiel der französischen Staatsbahn SNCF zeigt, worum es geht: Die SCNF-Schulden von 51 Milliarden Mark übertreffen den Jahresumsatz um das Dreifache. Zins und Tilgung der insbesondere durch die Hochgeschwindigkeitsstrecken verursachten Schulden belaufen sich auf 4 Milliarden Mark jährlich. Für 1995 erwartet die SCNF ein Defizit von 2,9 Mrd. Mark. Die Rentabilität der Hochgeschwindigkeitszüge für das Gesamtsystem steht mittlerweile in Frage, da der Nicht-TGV- Verkehr dramatische Einbrüche erlebte: 6.000 Streckenkilometer stehen zur Disposition.

Kein Wunder, daß die DB AG mit der Fortsetzung des radikalsten Personalabbaukonzeptes ihrer Geschichte – Fernziel ist ein Bestand von 150.000 Jobs – die Kosten senken will. An die Neukalkulation ihrer politisch festgezurrten Milliardeninvestitionen traut sie sich noch nicht heran. Aberle mahnt: „Fraglich ist, ob die hohen Investitionen sich betriebswirtschaftlich rechnen.“ Dies gelte selbst für eine so wichtige Strecke wie die neuen Verbindung zwischen Franfurt und Köln.

An konstruktiven Alternativvorschlägen vom Wuppertal-Institut, dem Münchner Büro Vieregg- Rößler oder der SCI Verkehr GmbH mangelt es nicht: Mit Streckenoptimierung statt -ausbaus und einer Offensive für kundenorientierte Konzepte für den Güter- und Personenverkehr in der Fläche könnte die Bahn den Stellenabbau bremsen, ihre Investitionskosten senken, ihre Marktanteile erhöhen und die Finanzsituation verbessern.