Selbstbewußt behindert

Er ist halbblind, hat nur eine Lunge und keinen Magen – aber er betrog seine Versicherung. Ein Nachbarjunge kam ihm auf die Schliche  ■ Von Plutonia Plarre

Mitleidige Blicke folgten dem Mann, der hinter seinem Blindenhund durch die Gerichtsflure stolperte. Seine Fellmütze aus den Beständen der Sowjetarmee hatte er sich tief ins Gesicht gezogen, das unter der dunklen Sonnenbrille leichenblaß wirkte. An der Krempe der Mütze leuchtete ein Roter Stern, am Halsband des Hundes schimmerte ein Rotes Kreuz. Die Ärmel seines enggegürteten Trenchcoates waren mit zwei großen Blindenbinden umwickelt. Es war ganz offensichtlich: Ein Schwerbehinderter bahnte sich seinen Weg.

Der 58jährige Frührentner Horst B. war als Angeklagter zum Gericht gekommen. Er soll im vergangenen Frühjahr im Anschluß an einen Diebstahl in seiner Kreuzberger Wohnung seine Hausratsversicherung betrogen haben. Eine Canon-Kamera im Wert von 1.500 Mark soll er als gestohlen gemeldet haben, obwohl diese gar nicht abhanden gekommen war. Außerdem soll er ein Topfset mit 3.500 Mark beziffert haben, das nur 889 Mark gekostet hatte.

Der Frührentner verteidigte sich selbst: „Ich habe es mit dem Herz und dem Kreislauf zu tun. Ich habe nur noch eine Lunge und keinen Magen mehr, bin schwer gehbehindert und Sie, Herr Richter, sehe ich nur noch als Schatten“, erklärte er mit einer überraschend kräftigen, schnarrenden Stimme. Diese sollte Amtsrichter Schneider während der Verhandlung noch weitaus öfter hören, als ihm lieb war.

Zu der Canon-Kamera sagte der Angeklagte: „Ich vergaß, daß ich sie bei Freunden liegengelassen hatte und habe sie erst später wiedergefunden.“ Für die Töpfe, die er auf einer Kaffeefahrt erstanden hatte, habe er wirklich so viel bezahlt wie bei der Versicherung angegeben.

Der Versicherungsschwindel war durch einen Zufall aufgeflogen. Horst B. hatte einen 19jährigen Nachbarsjungen des Einbruchs in seiner Wohnung bezichtigt. Die Kripo durchsuchte daraufhin zweimal dessen Wohnung – vergeblich. Schwer empört hatte sich der Nachbar danach wochenlang auf die Lauer gelegt und Horst B. eines Tages beim Spazierengehen ertappt – über seinem Arm hing die angeblich geklaute Kamera. Die herbeigerufene Polizei rückte mit mehreren Funkwagen an und stellte den Frührentner zur Rede. „Er hat behauptet, er habe die Kamera vor zwei Wochen bei Wegert gekauft“, erklärte ein Polizist als Zeuge vor Gericht. „Das stimmt nicht!“ protestierte der Angeklagte und hob an, den Beamten heftig zu beschimpfen. „Die stürzten sich wie die Habichte auf mich. Ich mußte sechs Stunden auf dem Polizeirevier sitzen und hab noch nicht einmal ein Glas Wasser bekommen!“ Der Polizist wies diesen Vorwurf entschieden zurück. Er selbst habe ihm ein Glas Wasser gebracht.

Auch der als Zeuge geladene Nachbarjunge bekam von dem Angeklagten sein Fett weg. „Der hat doch bei mir eingebrochen und rotzt mich ständig an“, sagte Horst B. Der Richter bat vergebens um Mäßigung. Zum Topfset wurde eine 69jährige Nachbarin gehört. Diese bekundete, auf der Kaffeefahrt das gleiche Set für einen Preis von 889 Mark gekauft zu haben. Daraufhin war für den Staatsanwalt und das Gericht der Fall klar. Horst B. wurde zu einer Geldstrafe von 1.800 Mark verurteilt. „Damit bin ich nicht einverstanden!“, schimpfte Horst B. und bestand darauf, gegen den Polizisten und den Nachbarsjungen Strafanzeige wegen Verleumdung zu stellen.

Nach der Verhandlung brach es auf dem Flur aus dem Polizisten heraus: „Sie müssen mal sehen, wie der in Wirklichkeit rennen kann“. Und die Schwester des Nachbarjungen setzte noch eins drauf: „Der löst im Dunkeln auf seinem Balkon immer Kreuzworträtsel.“