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Wo sollen die Soldaten wohnen? Von Mathias Greffrath

„Six cents millions de chinois et moi et moi et moi ...“

(„600 Millionen Chinesen und ich und ich und ich ...“)

Aus einem Lied des französischen Liedermachers Jacques DuTronc, 1966

Blecke stand auf dem Stubentisch und versuchte französisch zu singen. Bleckes Stimme überschlug sich immer, aber er spielte hinreißend Waschbrett. Er kam aus Hamburg, war ein freundlicher Zyniker und wurde später Chef vom manager magazin. Klaus und Götz, die Gitarristen, waren aus Fallingbostel. Und Güttgens, der gerade mit seinem Stiefel nach der Ratte warf, war Automechaniker aus Krefeld. La Courtine im Massif Central 1966, Panzergrenadiere im Europamanöver. Die Kasernen waren aus der Zeit Napoleons III, das Gewölbe verstärkte den Klang unserer Skiffle-Band ins Schön- Voluminöse, das Repertoire war amerikanisch-pazifistisch. Nach einem Jahr Wehrdienst hatte jeder ein schlechtes Gewissen, weil er noch nicht verweigert hatte.

Inzwischen sind wir eine welthistorische Epoche weiter. Die Zahl der Chinesen hat sich verdoppelt, Siemens ist auch schon da, und Dinge bedrohen uns, von denen man damals nicht einmal den Namen kannte. Frankreich zieht die Konsequenz und schafft die Wehrpflicht ab. Verhaltene Zustimmung im Land: Endlich! Auch Chiracs Idee einer zivilen Dienstpflicht, die an ihre Stelle treten soll, regt dort niemanden auf. Es geht nur noch um die Frage, ob drei Monate oder neun, ob obligatorisch oder freiwillig, ob alle oder nur die Männer.

Bei uns herrscht Ruhe. Finanzielle, politische und technische Erwägungen sprechen für die Freiwilligenarmee (Christian Semler, taz vom 1.3., Seite 10), aber weder CDU noch SPD denken an Änderung. Und die Debatte über einen Zivildienst fängt erst recht niemand an. Als Helmut Kohl die Idee vor zwei Jahren aufbrachte, verschwand sie schnell wieder in der Versenkung. Schwarz liegen die Schatten von Himmlers Arbeitsdienstpaten über der Idee eines sozialen Pflichtjahres.

Aber was spräche gegen eine republikanische Dienstpflicht? Was spräche dagegen, Jugendlichen, die auf Dorfstraßen oder in Vorstädten herumhängen, Arbeit anzubieten, die ihnen wenigstens Anschluß ans tätige Leben brächte? Was ist so peinigend an dem Gedanken, auch ausgebildete Bürger könnten einen Teil ihres Berufslebens statt für die Armee für die Gesellschaft, die Gemeinschaft, die Gemeinde arbeiten? Es würde den Arbeitsmarkt entlasten, ein zum Abmagern verurteilter Sozialstaat könnte einige Aufgaben an kurzfristig trainierte Bürger zurückgeben, vielen Jugendlichen würde ein solcher Dienst – bei dem sie neuen Menschen, Ideen und Wirklichkeiten begegnen – allererst eine Perspektive aufs Leben zeigen.

Man sollte den Gedanken schon deshalb diskutieren, weil wir, wenn das Kapital weiterhin so zügig freihandelt und rationalisiert, neben einer radikalen Verkürzung der Arbeitsstunden (Rocard redet in Frankreich von 32 Stunden) um einen zweiten, staatlichen Arbeitsmarkt, um workfare (öffentliche Arbeit gegen Sozialhilfe) und dergleichen nicht herumkommen werden. Aus Finanznot, vor allem aber um den Menschen, die zu schwach, zu krank, zu unausgebildet, zu unfähig oder einfach überflüssig sind für die Turbowelt, eine sinnvolle Arbeit zu geben und den undemokratischen und inhumanen Zerfall der Gesellschaft in Hochproduktive und Mitgeschleppte zu verhindern.

Ein Zivildienst, der nicht länger Ersatz für Kriegsdienst, nicht Lückenbüßer für kaputte Arbeitsmärkte wäre – was könnte er sich vornehmen? Die Re-Urbanisierung zerstörter Innenstädte, die Aufforstung zerstörter Wälder, den Aufbau von Zentren, in denen Computerfreaks wißbegierigen Bürgern im Internet recherchieren helfen, verdoppelte Öffnungszeiten für Bäder, Galerien und Bibliotheken. Dabei lernten Menschen aus Ihringen Berlin kennen und Großstädter das Land. Und warum nicht europäisch? Jacques Delors hat vor ein paar Jahren einen europäischen Sozialdienst für den Bau von Hochgeschwindigkeitstrassen nach Moskau gefordert. Wie wäre es mit Solardächern für Rumänien oder der internationalen Sanierung der Ostsee? All das könnte – neben der Pflege von Alten und dem Spielen mit Kindern – Inhalt eines solches Dienstes sein.

Aber brechen wir hier ab, denn vor allem müßte ein solcher Dienst das Experiment der jungen Bürger sein, ihre Neuerfindung der Gesellschaft, ihre Definition dessen, was Bürgerarbeit sein soll. Er müßte an ihre Veränderungslust ebenso appellieren wie an ihre unverbrauchten Ressourcen an Solidarität und Neugier. Wer weiß, was ihnen alles einfallen könnte? Und warum könnte ein solcher Dienst nicht selbstverwaltet sein? Was spräche denn dagegen, daß die 10. Klasse, die ein Jahr lang begeistert im Projektunterricht die Verschmutzung der Ostsee studiert hat, ihr Bürgerleben in einem selbstgeplanten Zivildiensteinsatz an den Küsten Rügens beginnt?

Ein Zivildienst auf der Höhe der Zeit nähme die Verteidigung der zivilen Kultur und der sozialen Sicherheit im Zeitalter der Globalisierung ebenso ernst wie die des Territoriums während des Kalten Krieges. Er wäre notwendige Bürgerarbeit, nicht länger kriegerische Verteidigung, sondern innere Sicherung des öffentlichen Reichtums. Das kommt allen zugute, und deshalb sollte er obligatorisch sein. Für die Jungeliten die ungebremste Karriere, für das überflüssige Drittel Altenpflege und Steineschleppen gegen die Klimakatastrophe – das wäre die staatlich zementierte Klassengesellschaft.

Die Schwierigkeiten im einzelnen sind groß und bekannt. Aber welche Chancen lägen nicht in einer solchen, staatlich moderierten Projektschmiede zur ökologischen und sozialen Modernisierung der Gesellschaft? Vielleicht ist das ja die eigentliche Furcht vor einer solche Debatte: daß aufgeweckte Jugendliche, denen man eine weitgehende Beteiligung am Gemeinwesen einräumte, eine „Identifikation mit der Nation“ (gar mit der europäischen) entwickeln könnten, die nicht im Sinne derer ist, die jetzt über Werteverlust und Unlust am Dienen jammern? Könnte es sein, daß der Aktivbürger ohne Uniform gar nicht gewünscht wird? Nicht von Wohlfahrtsmultis und Erbhofverteidigern im öffentlichen Dienst, nicht von einer konsumverzauberten Mehrheitsmittelschicht und nicht von Eliten, die weltmarktkompatibel sind, Putzfrauen brauchen und deshalb keine Alternative zu Wachstum und Dienstbotengesellschaft sehen?

Blecke starb an Krebs, und Götz schreibt Schulbücher, und Volker ist Anwalt geworden. Die anderen sind mir verloren gegangen, und für die Wehrpflicht wird noch immer geworben. Aber ich könnte mir vorstellen, daß eine Gruppe junger Menschen, die Solardächer in Serbien montiert hätte oder die Bibliothek von Sarajevo aufgebaut, verwüstete Panzerabschußbahnen in der Lüneburger Heide aufgeforstet oder mit behinderten Kindern eine Tagesstätte renoviert – daß die sich nicht so aus den Augen verlieren wie die Skiffle-Band aus Munster-Langen. Sie hätten schließlich etwas Neues in die Welt gesetzt.

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