Zelt der barocken Moderne

■ Die französische Truppe Cirque baroque mit Voltaire auf Kampnagel

Es soll Menschen geben, die an der Zurschaustellung dressierter Tiere oder der Reihung waghalsiger Akrobatiknummern mit Dschingdarassa-bum-Fanfaren nicht recht Gefallen finden. Diesen, wie auch erprobten Zirkusgängern mit Lust auf Neues, eröffnen Truppen, die mit dem Label „neuer Zirkus“ belegt werden, eine ungeahnte Form, Zirkus-Kultur zu genießen. Nach Que-Cir-Que und Gosh, die schon auf Kampnagel gastierten, schlägt nun der 1986 von Christian Taguet gegründete Cirque Baroque sein Zelt in der K6 auf, um die Deutschlandpremiere von Candides zu geben.

Daß die Neuentdeckung des Zirkusses in Frankreich statthat, ist Ergebnis einer Kulturpolitik, die Zirkus nicht als niedere Unterhaltung geringschätzt. Konsequenterweise gibt es also vor Paris eine staatliche Zirkusschule, die ihresgleichen auf der Welt sucht. Diese etablierte Möglichkeit der Ausbildung ist an dem zirzensischen Innovationsschub, der sich in der explosionsartigen Neugründung von Zirkussen manifestiert, nicht unerheblich als Impulsgeber beteiligt.

Die frische und freche Verbindung traditioneller Zirkuskünste mit zeitgenössischen Formen von Tanz, Theater und Musik treibt auch der Cirque baroque auf avancierteste Weise voran. Candides, das aktuelle Programm des Cirque, bezauberte bereits das Pariser Publikum und wurde in der französischen Presse umjubelt.

Einem Feuerwerk gleich entlädt sich in diesem theatralischen Manegenstück, was an Spannung in der Begegnung von üblicherweise getrennten Bereichen steckt. Denn Begegnungen in Grenzbereichen sind hier Programm: Ein Zirkus, der sich als barocker bezeichnet, spielt den aufklärerischen Candide, frei nach dem Roman von Voltaire. Idee und Umsetzung entstanden aus der Zusammenarbeit von Cirqe-Gründer Christian Taguet und einem Regisseur, dem Chilenen Mauricio Celedon und Gründer des Teatro del Silencio.

Die Grenze zwischen Zirkus und Theater wird anvisiert und überschritten. Dabei ist es in einer Zeit, in der das Geschichtenerzählen auch im Theater obsolet geworden zu sein scheint, für einen Zirkus eher revolutionär, erzählen zu wollen. Voltaires Candide liefert dafür einen guten Stoff: Ein unverbesserlicher Optimist gerät hier durch seine Naivität in gar nicht mehr aufklärerisch-vernünftige Situationen, die durch keine metaphysische Instanz zu rechtfertigen sind. Eingerahmt wird die Erzählung in die irrig-wirrige Liebesgeschichte zwischen Candide und Kunigunde.

In der Inszenierung des Cirque Baroque entsteht daraus eine Aufführung von ganz eigener Poesie, Dynamik und Rhythmik. Candide verdoppelt sich zu zwei rotnasig-clownesken Gestalten, die grimmigen Maskierten in die Hände fallen und mit ihrer Bilderwelt Assoziationen an die Commedia dell'arte wachrufen. Zirkuskunststücke von Akrobaten, Seiltänzerinnen und Jongleuren finden nicht nur durch die Voltairesche Geschichte einen Ort im Zusammenhang, auch Musik und Kostüme führen die Szenen zu einem harmonischen Ganzen zusammen: Live gespielte Rockmusik von Marcel Burin und Los Munos, fantastische Masken und Kostüme, choreographische Elemente und szenisches Pantomimenspiel geben den traditionellen Zirkuselementen eine völlig neue Dimension, die sie in die Nähe absurden Theaters rückt. Ein Zirkusspektakel ganz anderer Art also, das selbst noch klischeehafte Zirkusvorstellungen clownesk und selbstironisch ins Bild setzt.

Um es anders zu sagen: Liebt man Zirkus nicht, kann man den Cirque wegen des Theaters genießen, wenn nicht wegen des Theaters, dann wegen des Tanzes oder wegen der Musik. Oder aber wegen der furios-unkonventionellen Kombination aus all dem, die mit Sicherheit eines verspricht: einen magischen Abend in der Manege.

Elke Siegel

Ab Freitag, 20 Uhr, K6, bis 24. März