Der Blues drängt in die Konfektion

■ Schnelle theatralische Hilfe aus Amsterdam? Gerardjan Rijnders' "Moffenblues" in der DT-Kammer uraufgeführt

Als die Vorstellung beginnt, singen sie bereits seit einer Viertelstunde. „Alle Vöglein sind schon da“ und anderes, was man im richtigen Leben wohl nur in größter Not anstimmen würde. Volkstümliches, aber schwermütig kunstliedhaft variiert. So also klingt es, wenn Deutsche den Blues haben. Und auf der Kammerspielbühne des Deutschen Theaters stehen sie dabei ganz hinten, eng an einen mit Kerzen übersäten Flügel gedrängt. Ein Winkel des Trostes.

Vorne indessen ist Berlin. Ein riesiges Baugerüst läßt daran keinen Zweifel, und eine blau gekachelte Fassade zitiert die neue Friedrichstädter Sachlichkeit. „Instant Dutch“ steht lustigerweise auf dem Stützgerüst. Ein Verweis auf den niederländischen Regisseur und Autor Gerardjan Rijnders, der aus Amsterdam herübergekommen ist, um das Staatstheater der deutschen Hauptstadt auf die Höhe der Zeit zu bringen. Schnelle theatralische Hilfe.

Der 47jährige Rijnders, Leiter der Toneelgroep Amsterdam, gilt als Splatterregisseur, als wütender und verwirrender Collagist. 1993 inszenierte er seinen „Liebhaber“ in Frankfurt/Main, ein Stück über einen tobsüchtigen Theaterkritiker, dem seine häusliche Wirklichkeit entgleitet. Und im Jahr darauf wurde „Count your Blessings“ bei der Bonner Biennale gezeigt, eine Begegnung zwischen einer holländischen Partygesellschaft und Bewohnern eines Asylantenheims.

Grundlage für die Auftragsarbeit „Moffenblues“ („Moffen“ ist eine abfällige Bezeichnung für Deutsche) waren Interviews, die Rijnders mit Darstellern des Deutschen Theaters über die Wendezeit in Berlin geführt hat. Er collagierte die Texte und versetzte sie mit dem Mythos des Fliegenden Holländers und der Geschichte der Anne Frank. Anne Frank, die nicht sterben kann, weil keiner ihre „wahre“ Geschichte hören will. Und die im heutigen Berlin zwischen Figuren herumirrt, die ihrerseits seufzen: „Jetzt kann man alles sagen, aber keiner hört zu.“

Als sich die Schauspieler genügend Trost zugesungen haben, versammeln sie sich an der Rampe. Margit Bendokat, Guntram Brattia, Thomas Dannemann, Petra Hartung, Gabriele Heinz, Christian Kuchenbuch, Thomas Neumann, Gudrun Ritter und Stefanie Stappenbeck. Heinz trägt ein Königinnenkostüm mit Halskrause, Dannemann Existentialistenlook, andere sind, passend zur Gemütslage, ganz in Blau gekleidet. Blaue Lackjeans zum Netzhemd, ein blauer Mini, ein goldgefütterter blauer Mantel. Königsblau, taubenblau, pflaumenblau – der Deutschen Blues drängt in die Konfektion.

Geradezu vorwurfsvoll lebensfroh wirkt dagegen ausgerechnet die Darstellerin der Anne Frank. Chun Mei Tan (die Rijnders aus Amsterdam mitgebracht hat) trägt bunte Leggins über dem Leopardenmini und fiedelt unsicher die ersten Takte von „Für Elise“. Eine polnische U-Bahn-Musikantin, glauben die anderen und führen ihre Unterhaltung fort, in der sich mühsam Beschauliches mit Nonsens umstandslos vermischt. „Ich fühle mich deutsch. Die Deutschen haben so eine komische Melancholie“, sagt etwa Hartung, und Neumann erzählt davon, wie er einmal sein Taschentuch ausschüttelte und sein Kind darin fand, obwohl er gar kein Kind hat. Das alles wirkt ein bißchen wie von Daniil Charms, später wie von Botho Strauß, schließlich aber doch nur wie eine Kantinenversammlung.

„Westdeutsche, die in einer Schlange stehen, halten im Durchschnitt 15 Zentimeter mehr Abstand als Ostdeutsche“, sagt Brattia, und keiner lacht. Dann streitet er sich mit Stappenbeck darüber, ob Ostdeutsche tatsächlich mehr Spaß am Sex hätten oder ob sie das aus demütigend taktischen Gründen (Bettkantenvorteil der Primitiven?) nur behaupten würden.

Es ist deprimierend. Der Blues der Moffen – hier vor allem der Ost-Moffen – ist letztlich nicht mehr als Gegreine. Die Hoffnung, daß dies alles vielleicht nur Provokation und Zitat sei und getreu dem Motto „Ist der Ruf erst ruiniert...“ später in fröhliches Chaos umschlagen könnte, ist vergeblich. Dies ist ganz authentisch gemeint und szenisch eins zu eins umgesetzt. Denn zwar saust einmal die Drehbühne herum, Nebel wabert, und ein Bass wummert, aber danach stehen alle wieder unschlüssig da und sagen beispielsweise, daß sich „Solidaritätszuschlag“ von „zuschlagen“ ableite. Deutschland, Stimmenreich – oje.

Und Rijnders hat das alles so hingenommen. Das heißt: fast alles. Denn mit der Figur der Anne Frank wollte er das wabernde Interview-Material offenbar doch zur Ordnung rufen. Und so sagt diese irgendwann: „Was ich den Moffen wirklich übelnehme, ist, daß sie die Filme synchronisieren. Man hört immer nur Adolf und Eva.“ Vor der Geschichte sind alle Moffen gleich. Ein Trost? Die auf der Bühne müssen zwar schlucken, versetzen sich jedoch mit einem entschlossen angestimmten „Nun will der Lenz uns grüßen“ wieder in Normalstimmung.

Die musikalischen Momente wirken übrigens heftig von Christoph Marthaler inspiriert. So heftig, daß auch der sonstige szenische Minimalismus in merkwürdig kupfernem Licht erscheint. Zumal die Figuren auch ganz marthalerhaft unter Zwangshandlungen wie Armeentblößen oder Ohrenreiben leiden. Nur daß Marthaler souverän choreographiert, während sich Rijnders vergeblich an der staatstheaterhaften Starre der Betroffenheit abarbeitet.

Nur einmal rafft sich Margit Bendokat zu einem entgleisten, liebeskranken Tänzchen auf. Und ein andermal kreischt sie in herrlicher Fischweibmanier ihren Haß auf frauenmagazinkompatible „Frauchen“ heraus. Zwei einsame Höhepunkte in einer zwei Stunden währenden Kraftlosigkeit. Am Ende steht die pathetische Stummheit Anne Franks. Wider Erwarten und fast mehr aus Langeweile will ihr nun doch jemand zuhören, aber sie bringt kein Wort heraus und entschwindet in den Kulissen.

Dann geht das Licht aus und wieder an, und nur ein einziger Buhruf belebt den teilnahmslosen Kurzapplaus des Premierenpublikums. Schnelle theatralische Hilfe und ein erfrischender Blick von außen aufs deutsche Jammertal? Ach was. Einer hat ein paar Eulen nach Athen getragen. Kunststück. Petra Kohse

„Moffenblues“ von Gerardjan Rijnders (Deutsch von Monika The); Regie: Rijnders; Bühne: Paul Gallis; wieder am 9. 3., 19.30 Uhr, Kammerspiele des Deutschen Theaters, Schumannstr. 13a