■ Gefühl, Verstand, Kino etc.: Angst vor dem Schmachtfetzen
Wer heute ein Wörterbuch der Gemeinplätze schriebe, täte gut daran, einen ansehnlichen Teil dieses Buchs der kritischen Kritik zu reservieren: denn unsere heutigen Gemeinplätze sind kritische Gemeinplätze.
„Landpartie fürs Bildungsbürgertum“, „fröhlicher Beziehungsreigen“ (Die Zeit), „in vergangener Empire-Herrlichkeit schwelgendes Leinwandwerk“ (Der Spiegel), „hochkulinarisch“ (Tagesspiegel) – „Sense and Sensibility“, Ang Lees Verfilmung von Jane Austens gleichnamigem Roman, hat seitens der Filmkritik so viele idées reçues auf sich gezogen, daß ich die Sache nicht auf sich beruhen lassen mag, obwohl wir die Schlacht schon gewonnen haben und das Gute bereits auf ganzer Linie gesiegt hat: Goldener Bär! Zwei Oscars in Aussicht! Ha!
Da sollten die unterlegenen Malefikanten eigentlich verstummen, allein sie tun es nicht: „Hatten Sie je Angst, daß Ihr Film den Zuschauern aus den falschen Gründen gefallen würde: als rein nostalgischer Schmachtfetzen aus einer Ära, in der die Männer noch galant und die Frauen noch keusch waren?“ So fragt der Spiegel (Nr. 10/1996) die Hauptdarstellerin und Drehbuchautorin Emma Thompson anläßlich des heutigen Kinostarts.
Die Angst vor dem „Schmachtfetzen“, der einen so packt, daß man zeitweilig ein bißchen die Kontrolle verliert und womöglich gar „aus den falschen Gründen“ lacht oder weint, scheint nicht unwesentlich die Aufnahme dieses Films zu bestimmen. Ich habe zwar nicht geweint, aber ich weiß, wovon ich rede, denn es war nicht gerade einfach, Contenance zu bewahren; aber wenn man zu arbeiten hat...
Daß man sich von einem „Schmachtfetzen“ nicht berühren lassen will, oder, wenn's denn nun mal peinlicherweise geschehen ist, nichts zugeben will, erklärt den durchgängig pueril abwehrenden Ton, mit dem die Kritik auf diesen Film reagierte. Und das Puerile schließt hier die kritische Damenwelt ein, die ebenso heftig wie die männlichen Kollegen um Abstand von solchen Mädchensachen ringt: „Kostümfilm... romantisches Herzeleid der Mädchen aus höherem Hause... Bildungsbürgertum“ – mit diesen Worten verwirft Christiane Peitz den Film in der Zeit, dem Zentralorgan rauhbeiniger proletarischer Sonderschüler.
Harald Martenstein (Tagesspiegel) mußte zwar gestehen, sich nie gelangweilt und Kostüme, Ballszenen und gar den Beleuchter „prima!“ gefunden zu haben, aber auch er hat gegen die keimende Begeisterung noch einen Trumpf im Ärmel und gibt zu bedenken, „daß eine existentielle Geschichte vom Scheitern gewisser Utopien an das prachtvolle, kulinarische Amüsement verkauft wurde“.
Natürlich besteht die Aufgabe der Kritik nicht darin, sich hinreißen zu lassen und das Publikum über die dabei aufgetretenen Wallungen in Kenntnis zu setzen. (Na ja, jedenfalls nicht nur darin.) Aber man sollte doch die Filme nicht umgekehrt für die unfreiwillige Hingerissenheit entgelten lassen.
Und schon gar nicht die Autorin der Vorlage, Jane Austen, wie es der Spiegel in seiner Kritik tat: „Sie propagiert ,family values‘, klare Werte, Mäßigung, Herzensbildung, Manieren. Darin liegt, mehr als in allem anderen, ihr Reiz für diejenigen, die sich nach den guten alten Zeiten sehnen. Jane Austens Welt ist durch und durch geordnet, nach Klasse, Charakter und Geschlecht. Und ihre Frauen haben, bei allem Esprit, kein anderes Ziel als die Ehe. Wie beruhigend.“
Für wen könnte das wohl „beruhigend“ sein? Austens Gesellschaft ist, was die Ehe betrifft, schon ganz und gar „Risikogesellschaft“.
Das jeweilige Gegenteil von dem, was der Spiegel behauptet, ist wahr: Austen reflektiert den Anbruch eines Zeitalters, in dem „klare Werte“ ins Schwanken geraten. Ihre Welt ist in Bewegung, ihre Heldinnen sind gar, wie die Dashwoods in „Sense and Sensibility“, Deklassierte. Charakter zu haben heißt bei ihr gerade nicht, sich anhand von Tugendkatalogen durch die Welt zu bewegen. Ihre Frauen wollen zwar heiraten (sie müssen auch, weil die Zeit es so will), aber nichts droht hier so dauerhaft beunruhigend wie eine unglückliche Verbindung.
Aber es lohnt sich nicht, die offensichtliche Unwahrheit über Austen Punkt für Punkt zu widerlegen. Es soll ja nicht die Autorin der Vorlage getroffen werden, sondern der Film. Und die Ressentiments gegen den Film äußern sich in ebenjenen kritischen Gemeinplätzen: Lees Film verbreite den „Glanz geschmackvoller Hochkultur“, er sei eine „De-Luxe-Kreuzfahrt in die Vergangenheit, bei der nie die Regeln des guten Geschmacks verletzt werden“, er sei „hübsch“, „leicht“, „hochkulinarisch“, „ein Schmankerl“, und, vielleicht am
schlimmsten: ein „Sieg des Pragmatismus... Jeder kriegt, was er oder sie verdient. Wir wissen alle, daß es nur im Kino so ist.“
Unter anderem weil wir wissen, daß das so ist, gehen wir ins Kino, um zu sehen, wie Leute kriegen, was sie brauchen und verdienen. „Sense and Sensibility“ ist nicht zuletzt deshalb so ergreifend, weil er zeigt, wie unwahrscheinlich das ist und wieviel es kosten kann. Jörg Lau
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