Eine Art ist eine Art ist eine Art

■ betr.: „Tschernobyl schafft neue Nager“, taz vom 2./3. 3. 96

Lieber Wolfgang, nun bist leider auch Du den Verlockungen der genetischen Blickverengung in der Biologie verfallen! In deinem Artikel gibst Du unkritisch die Behauptung wieder, daß DNA-Sequenzunterschiede eine geeignete „Messung“ seien, um stammesgeschichtliche Unterschiede zu entdecken. Dabei wird mehreres unterschlagen:

1. Längst nicht alle (Sequenz-)Unterschiede im Erbgut sind gleich zu bewerten. Es gibt sogenannte hochkonservierte Bereiche, aber auch Bereiche, in denen auch innerhalb einer Art große Unterschiede/Variationsbreiten bestehen. Leider ist dem Artikel nicht zu entnehmen, um welche Bereiche der (M)m-RNA (nehme ich an) es sich handelt und wie aussagekräftig solche Unterschiede sind.

2. Zu einer Art gehören Genotyp und Phänotyp. Jede Artdefinition muß neben der Erbsubstanz – und auch davon wird ja nur immer ein Bruchteil in solchen Studien tatsächlich verglichen – ebenso das äußere Erscheinungsbild berücksichtigen. Du weißt genausogut wie ich, daß die 1:1-Gleichsetzung von DNA-Ausstattung mit dem real existierenden Organismus wissenschaftlicher Blödsinn (mit Methode) ist! Im Laufe der Individualentwicklung sind vielfältigste Wechselwirkungen zwischen den Genen und ihrer Zellumgebung sowie mit der Umwelt des Organismus nötig, damit ein lebendiger Organismus entsteht.

3. Die biologische Artdefinition (nach Ernst Mayr und anderen) macht potentielle oder tatsächliche Kreuzbarkeit zum Kriterium der Artzugehörigkeit. Bei Säugetieren ist diese Definition immer noch die sinnvollste (für Mikroorganismen nicht: horizontaler Gentransfer etc. etc.). Allein eine – womöglich „signifikante“ – Veränderung irgendeines Bereichs des „Erbgutes“ macht die Art noch lange nicht zur Art.

4. Im Zusammenhang mit radioaktiver Strahlung möchte ich davor warnen, von einer bloßen „Beschleunigung“ von Evolutionsvorgängen zu reden. Nicht jede (katastrophale) Veränderung ist gleich „Evolution“ und mit zeitlich ganz anderen Dimensionen der Stammesgeschichte gleichzusetzen.

5. Du wirst wissen, daß auch Hiroshima und Nagasaki einst Eldorados für StrahlenforscherInnen waren. Etwas mehr Kritik an solchen Zusammenhängen hätte ich mir gewünscht. Würdest Du auch bezüglich des Menschen von „beschleunigten Evolutionsprozessen“ reden?

6. Die Eingangsbehauptung Deines Artikels ist, mit Verlaub, völliger Quark. Und die vielleicht beabsichtigte Ironie ging leider daneben. Selbst wenn – was ich bezweifle – eine neue Nagerart entstanden wäre, müßte erst mal geprüft werden, wie viele Arten durch Strahlung denn im Gebiet verschwunden sind.

Ich halte es sowohl wissenschaftspolitisch als auch journalistisch für sehr bedenklich, solche Meldungen unkommentiert und unkritisch zu reproduzieren, wie in Deinem Artikel geschehen. [...] Die Definitionsmacht über Begriffe und Konzepte sollte mensch sich nicht so leicht vom genetischen Paradigma (so, jetzt isses mir doch rausgerutscht) aufdrücken lassen. Die Gleichsetzung von Erbgut mit dem lebenden Organismus ist nicht erst beim Menschen eine wissenschaftlich nicht legitimierte Illusion mit bedrohlichen „Anwendungsperspektiven“. Thomas Potthast, Dipl.-Biol.,

Tübingen