Mehr Ideal als Wirklichkeit dargestellt

■ betr.: „Innovation als Wettbe werb“, taz vom 28. 2. 96

[...] Das zentrale Dilemma wird im Text in drei Sätzen zum Ausdruck gebracht – und zugleich verwischt –, die es sich daher zu zitieren lohnt: „Wie abwegig der Versuch mancher, die deutsche Standortdebatte als Manöver der Arbeitgeber abzutun, die im internationalen Vergleich einmalig hohen Beschäftigungskosten zu reduzieren. Denn nicht die hohen Löhne an sich sind das eigentliche Handicap der Deutschen. Sie werden erst dann zum Problem, wenn Koreaner und Taiwanesen die gleichen Qualitätsprodukte genauso effizient herstellen.“ Eben! Die Illusion der deutschen Industrie und Wirtschaftspolitik ist der Glaube, sie könne den historischen Bildungs- und Technologievorsprung halten, der einzig die Produktion trotz höheren Preises der Arbeitskraft noch rentabel macht. Daher die Verlagerung der Produktion in den Zentrumsländern auf technologie- und qualifikationsintensive Branchen und die Auslagerung arbeitsintensiver und qualifikationsarmer Industrien. Die gescheiterte Umstrukturierung des Vulkankonzerns ist nur ein Beispiel hierfür. Es lohnt sich schlicht nicht mehr, in Deutschland Schiffe zu bauen.

Dieses Modell könnte jedoch kippen, wenn es den Asiaten gelänge, ein ähnliches Ausbildungs- und Technologieniveau zu erreichen wie Europa – ohne gleichzeitig die Kosten für die Arbeitskraft in gleichem Maß zu steigern. [...] Hier könnte es tatsächlich zu einem massiven Verdrängungswettbewerb kommen, und es ist kein Zufall, wenn die Fürsprecher des Kapitalismus davon sprechen, daß „der traditionelle Verdrängungswettbewerb durch einen von qualitativem Wachstum und nachhaltiger Entwicklung geförderten Innovationswettbewerb ersetzt werden muß“. Als wäre das eine Alternative – als wäre der Innovationswettbewerb kein Verdrängungswettbewerb –, als könnte man die kapitalistische Grundmechanik, das Kapital dort zu investieren, wo sich aus der Arbeitskraft der größte Mehrwert schöpfen läßt, durch „Konsensorientierung“ aus der Welt schaffen.

Wenn eingefleischt liberale Wirtschaftssprecher auf einmal von Konsensorientierung reden, dann ist das ein sicheres Zeichen für die Angst, daß die Eigenlogik des Wettbewerbs diesmal zu ihren Ungunsten ausgehen könnte. Dann könnte es tatsächlich notwendig werden, über einen anderen Umgang mit der massiver werdenden Massenarbeitslosigkeit nachzudenken – Lafontaines Blick in die USA und die Debatte um den zweiten Arbeitsmarkt sind erste Ansätze dazu, dieses Problem auf dem Rücken der Arbeitnehmer auszutragen: Damit die Industrie nicht in die Billiglohnländer abwandert, holen wir diese zu uns – das geht sogar multikulturell. Auch wenn im zweiten Arbeitsmarkt nur Dienstleistungen verrichtet werden: das senkt die Reproduktionskosten des Deutschen und damit den Preis der Arbeitskraft. Auf das Fazit „Asien zwingt alle Deutschen, ihr Weltbild zu ändern“ läßt sich nur eins erwidern: Marx hätte seines behalten! Olaf Rahmstorf, Konstanz

Das Memorandum gibt eine Menge Anregungen, und ich sehe keinen Grund, an den meisten der dargestellten Sachverhalte zu zweifeln. Eine Reihe allgemeiner Wertungen indes möchte ich schon hinterfragt wissen, weil sie meiner Meinung nach des Nach- und Hinterfragens würdig sind.

So heißt es allgemein: „In einer Demokratie ist es nun einmal so: die Zukunftsaufgaben muß der Bürger selbst benennen. Das gilt gerade auch in einer Zeit, in der uns die Probleme über den Kopf zu wachsen drohen.“ So, so – und was geschieht, wenn „der Bürger“ Probleme benennt mit der Benennung, dem Benannten? Wer entscheidet über die Be- und Verarbeitung der Probleme? Etwa auch der Bürger? Sie selbst lassen ja unten durchblicken, daß es um die Information der Bürger durch Politiker über die Verhältnisse in Asien nicht zum besten bestellt ist. Haben Sie hier nicht mehr das Ideal als die Wirklichkeit dargestellt?

Weiter: „Es ist unser aller gesellschaftliches und finanzielles Problem, daß viele deutsche Unternehmen in den letzten Jahren den Anschluß an die Weltspitze versäumt haben.“ Das ist wohl wahr. Ursache? „Politik und Wirtschaft, Gewerkschaften und Medien haben die asiatische Herausforderung zu spät erkannt.“ Ist dem wirklich so? Hat es nicht schon seit langem Bürgerstimmen gegeben – wohlgemerkt Stimmen von Wissenschaftlern und Publizisten –, die auf die Herausforderungen auf dem internationalen Feld aufmerksam gemacht haben? [...] Wer genau hat das Versäumnis zu verantworten, das nunmehr die Bürger so viel Geld und Arbeitsplätze kostet? Und was geschieht mit diesen Leuten in Politik, Wirtschaft, Vereinigungen, Verbänden und Medien, die das Versäumnis zu verantworten haben? Der Bürger kann doch wohl nicht erst dann beteiligt sein, wenn es ans Zahlen mit Geld, Sozialem, Kulturellem und Arbeitsplätzen geht.

Denn einen „Verzicht auf breitere Marktstrategien“ und die „eurozentrierte Genügsamkeit“ haben ja wohl nicht „die Deutschen“, sondern die Polit- und Wirtschaftsstrategen zu verantworten. Für diese trifft wohl zu: „Es mangelt uns im Vergleich mit Asien an der Bereitschaft zu kritischer Selbstreflexion.“ Wer ist hier uns (wir)? Etwa die Bürger, die überhaupt erst der Information durch Politiker, Wirtschaftsmanager und Medien bedürfen, um zu urteilen? [...] Auch im Hinblick auf die Information erwarten alle Bürger, und nicht nur „eine neue Generation“, „nach mehr Teilhabe an den Früchten ihrer Arbeit und nach mehr Selbstbeestimmung“. In Wirklichkeit dürfte es wohl nicht nur um die Teilhabe an den Früchten der Arbeit, sondern um Teilhabe am gesamten gesellschaftlichen Arbeitsprozeß und um deren Früchte gehen. Auch in dieser Hinsicht könnte man sagen: „Vulkan“ mahnt! Der Vorfall dürfte wohl auch hinsichtlich der eingehenden Informierung der Öffentlichkeit, also der Bürger, eine Art Urteilsspruch sein. Wir Jenenser haben im Prinzip Gleiches mit „Zeiß“ schon erlebt. Schuld der Bürger?

Was sie über das Lernen von Asien unter 4. schreiben, hat sehr viel für sich. Nur sehe ich davon sehr wenig. Nach wie vor werden „Arbeitnehmer“ als „Humankapital“ behandelt, das, gleichgültig gegenüber der Individualität der Persönlichkeit, austauschbar ist. „...unbefangene Offenheit, Aufnahmebereitschaft und Lernwilligkeit gegenüber den sozialen, wirtschaftlichen und technologischen Errungenschaften Asiens“ (warum eigentlich nur Asiens?) sowie „Weltoffenheit, globales Verantwortungsbewußtsein“ (wofür? wem gegenüber?) „und die Bereitschaft, von anderen, bisher ganz fremden Kulturen zu lernen“ (was? von wem? zu wessen Nutzen und Frommen?) „müssen Sache von jedermann werden.“ Dies ist nur zu bejahen, lenkt aber unweigerlich den Blick nicht auf einzelne Seiten des Menschen, sondern auf die Entwicklung der Persönlichkeit als Ganzes. Wirkliche Innovationen sind nun einmal ohne ausgeprägte Individualität der Persönlichkeit nicht zu haben. Damit würde aber das Bildungswesen hierzulande in die Pflicht genommen. Und wer prüft, ob dieses den genannten Anforderungen standhält?

Gehen Sie mit dem Blick darauf in Ihrem Memorandum weit genug, wenn Sie ausführen: „Es geht in der Standortdebatte also letztendlich nicht um Tarife, sondern um die Innovationsfähigkeit der Unternehmen“ (Wieso diese Alternative? Warum diese Beschränkung auf Unternehmen?) „und um die Qualifikation der Arbeitskräfte“ (Warum nur der Arbeitskräfte? Warum nicht des gesamten Potentials des Volkes, aus dem – wie das schon Walter Rathenau sah – diese erwachsen, das allgemeiner Nährboden für Kreativität ist?), „für die ein funktionierendes Bildungssystem die wichtigste Voraussetzung ist“. Sehr wahr! Und in einem solchen Bildungssystem muß nun einmal die Persönlichkeitsentwicklung der Schüler im Zentrum stehen. Ist das gegenwärtig der Fall? Die öffentlichen Debatten um das Bildungswesen lassen bei mir doch einige Zweifel aufkommen.

Schließlich: „Es muß Unternehmerpraxis werden, für die erfolgversprechenden Märkte in Asien nur die besten Manager auszuwählen. Die Gewerkschaften können sich bei der Umsetzung neuer Arbeitsweisen und Techniken stärker engagieren.“ Das wirft erneut Fragen auf. Was sind denn „die besten Manager“ für erfolgversprechende Märkte in Asien? Welcherart Umsetzung neuer Arbeitsweisen und Techniken sollen sich die Gewerkschaften stärker annehmen? Der technisch-organisatorischen, sozusagen als verlängerter Arm der Unternehmen und ihrer Manager oder der sozialen und bildungsmäßigen? – Solche Fragen kommen einem als Bürger, wenn man das Memorandum liest. Hans-Günter Eschke, Jena