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■ 24 Stunden der Demokratie im World Wide Web: Der "Communication Decency Act" politisiert das Internet

John Perry Barlow, ehemals Texter der Poplegende „Grateful Dead“, schickte seinen Beitrag am 8. Februar aus Davos: „Regierungen der industriellen Welt, Ihr zerschlissenen Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. Schon halb in der Zukunft, bitte ich Euch, die Ihr in der Vergangenheit lebt: Laßt uns in Ruhe! Ihr seid nicht willkommen bei uns. Wo wir uns versammeln, ist Eure Macht zu Ende.“

Der 8. Februar 1996: Mag sein, das Barlows hymnische Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace in die Geschichtsbücher des 21. Jahrhunderts eingeht (http:// www.misha.net/~elfi/declare .html). Der amerikanische Senator Exon jedoch dürfte schon etwas früher seine Idee des letzten Jahres bereuen. Sie ist bisher kein Erfolg. Zwar wurde sie an diesem 8. Februar der Wirklichkeit näher gebracht: Präsident Clinton unterschrieb das neue Telekommunikationsgesetz und damit auch den „Communication Decency Act“, den Zusatz, der auf die Initiative des Demokraten aus Nebraska zurückgeht. Eigentlich hatte James Exon nur amerikanische Kinder vor Dingen bewahren wollen, die „klarerweise“, wie es im nun beschlossenen Text heißt, das Anstandsempfinden amerikanischer Erwachsener verletzen. Doch ein Bundesrichter in Philadelphia erkannte in einigen Passagen einen Widerspruch zur amerikanischen Verfassung – der Vollzug des Gesetzes ist vorerst ausgesetzt.

Es wirkt trotzdem, nur nicht im Sinne der Moral des Senators. Es hat einen lang anhaltenden Aufstand im Internet ausgelöst. Barlows Unabhängigkeitserklärung trägt inzwischen mehrere hundert Unterschriften, einige kamen auch aus den Niederlanden, der Schweiz, aus Lateinamerika – eine aus Deutschland. Zum erstenmal wird im Computernetz des Pentagons nicht nur über Politik berichtet, zum erstenmal ist es selbst Schauplatz einer Demonstration.

Gegen den Puritanismus der Kongreßmehrheit stehen nicht wenige amerikanische Vorstellungen der privaten Freiheit: Ein blaues Band geistert seit dem 8. Februar durch die Seiten des World Wide Web, das unmißverständlich „Free Speech Online“ fordert, die Redefreiheit im Sinne des „First Amendment“ der amerikanischen Verfassung von 1791. Michael A. Norwick, Student der Verwaltungswissenschaften an der George Washington University Law School, hat ermittelt, daß zudem etwa sieben Prozent der Web- Seiten schwarz eingefärbt wurden, wie es eine ganze Reihe von Organisationen als Zeichen des Protestes vorgeschlagen hatte.

Doch die Trauerfarbe widersprach von Anfang an der tatsächlichen Stimmung. Hotwired, das Online-Magazin, das die Nase immer noch ein bißchen weiter vorn hat, schaffte seine schwarze Seite nach drei Tagen wieder ab. Die kybernetische Avantgarde trauert nicht, und Dave Winer, einer der Kolumnisten, denen Hotwired seinen Ruf verdankt, hatte eine viel bessere Idee. Er rief zur Aktion „24 Stunden der Demokratie“ auf. An einem einzigen Tag, dem 22. Februar, sollten möglichst viele und möglichst kluge Texte über den Nutzen der Redefreiheit gesammelt und der Netzgemeinde zugänglich gemacht werden. (http://www.hotwired.com/dave net/96/09/index4a.html)

Nun, es kam anders, als sich das der Informatiker und ehemalige Apple-Programmierer gedacht hatte. Winer wollte den Stand der Technik demonstrieren, wollte zeigen, daß es möglich ist, eine sehr große Menge von Dokumenten in sehr kurzer Zeit gleichzeitig online zu veröffentlichen. Sein Vorbild war die Aktion „24 Stunden im Cyberspace“ des Fotografen Rick Smolan: Ebenfalls am 8. Februar sandten über 1.000 Fotografen aus 27 Ländern ihre Bilder in Smolans Zentrale nach San Francisco – die Sammlung wird vom 17. März an auch im Internet verfügbar sein. (http://www.cyber24.com/).

Winers Ruf nach Texten jedoch erreichte nicht nur Prominente oder professionelle Autoren online. Die 24 Stunden der Demokratie nehmen kein Ende. „Es ist eine Ameisenfarm“ schreibt Winer, „wenn das so weitergeht, wird der Name der Aktion zum besten Witz des Netzes.“ Familienväter, Künstler und Schulkinder schickten ihre Aufsätze – sogar Bill Gates ließ sich herbei, wenn auch erst nach ausdrücklicher Einladung Winers, der den Microsoft-Chef schon lange mit literarischer Haßliebe begleitet. „Wir haben“, schrieb Gates, „ein nationales Interesse an der Redefreiheit“ (http://www.mi crosoft.com/corpinfo/bill-g/co lumn/freespeech.htm).

Gewiß kann Amerika nicht schaden, was Microsoft nützt. Doch Winers Aktion hat nicht nur solches Wortgeklingel, sondern einigermaßen radikale Gedanken ins Netz gebracht. Die Sammlung kann mit einem Zufallsgenerator durchstöbert werden: Phantasien der Machbarkeit, des Marktes und des Individuums, von den Einwanderern aus dem Europa der Aufklärung überliefert, haben neue Nahrung gefunden. Doc Searls zum Beispiel, Radiojournalist und Verleger, stellt selbst noch den Titel des Aufrufs in Frage – immerhin habe ja eine demokratisch gewählte Kongreßmehrheit dem Decency Act zugestimmt. „Zum Glück“, schreibt Searls, „fördert der Cyberspace nicht die Demokratie. Er fördert viel eher drei der wichtigsten Zivilisationskräfte, die wir kennen: Freiheit, Gemeinschaft und Unternehmertum. Im Cyberspace können wir praktische Interessengemeinschaften bilden und Lösungen für diejenigen sozialen Probleme finden, die tatsächlich auftauchen.“ (http://www .searls.com/searls/dochome.html) Niklaus Hablützel

(niklaus@taz.de)