■ Die neue türkische Regierung ist perfekt – ohne Islamisten
: Beim nächstenmal sind sie dabei

Die Istanbuler Konzernbosse können aufatmen. Der Börsenindex steigt. Zufriedenes Lächeln beim europäischen Politikmanagement: Die türkischen Islamisten in Gestalt der Refah-(Wohlfahrts-)Partei sind von der Macht ferngehalten worden. Erleichterung bei den türkischen Generälen: Nicht der geringste Anlaß, Putschpläne auch nur gedanklich durchzuspielen. Eine brave rechtsbürgerliche Koalition mit Mesut Yilmaz und Tansu Çiller an der Spitze wird das Land regieren. Alles scheint beim alten zu bleiben. Der blutige Krieg gegen den kurdischen Aufstand wird fortgesetzt – koste es den Etat, was es wolle. „Rückzug des Staates“ heißt die Zauberformel der Wirtschaftspolitik. Privatisierungen öffentlicher Betriebe, Massenentlassungen und ein Austeritätsprogramm stehen an.

Die Akteure, die heute jubeln, weil sie die Islamisten von einer Regierungsbeteiligung ferngehalten haben, merken gar nicht, daß sie die eigentlichen Geburtshelfer des religiösen politischen Extremismus in der Türkei sind. Die Rhetorik der Wohlfahrtspartei ist stark und anziehend: „Dieser Staat beschert euch Armut und Unterdrückung. Wir werden das System radikal verändern.“

Vieles spricht für die Prophezeiung, daß die künftige Regierungspolitik die Wähler den Islamisten in die Arme treiben wird. Die Linke ist längst keine politische Alternative mehr in der Türkei. Die Radikalen hat der Staat mit ungeheurer Repression aufgerieben, die Sozialdemokraten haben sich durch Regierungsverantwortung in den vergangenen vier Jahren kompromittiert. Die rechtsbürgerlichen Parteien schmelzen zusammen.

Die Islamisten in Regierungsverantwortung zu nehmen, wäre eine große Chance gewesen. Der Lack wäre abgeblättert. Wenn es um Rückzahlung der Auslandsschulden oder um Haushaltssanierung gegangen wäre, hätte sich die Wohlfahrtspartei in Regierungsverantwortung als das erwiesen, was sie in Wirklichkeit ist: als Systempartei des türkischen Kapitalismus. Nun bleibt sie die scheinbare „Systemalternative“, die für Gerechtigkeit und gegen Unterdrückung steht.

In Wirklichkeit können die Islamisten aufatmen. Die beste Propaganda für die Wohlfahrtspartei werden die anderen Parteien betreiben. Für den Fortbestand der Armut und der Repression wird die neue Koalition schon sorgen. Ömer Erzeren, Istanbul