„Rücksichtslos über Leichen gegangen“

■ Prozeß gegen Verantwortliche der Hamburger Firma „Testa“, die Zyklon B nach Auschwitz lieferte Von Felix Axster

Als „intellektueller Sadist“ habe er in der Firma gegolten, sagt der Buchhalter Emil Sehm bereits am ersten Verhandlungstag über seinen ehemaligen Chef. Dr. Bruno Tesch sei „nur Geschäftsmann gewesen und rücksichtslos über Leichen gegangen“, wird Sehm am 2. März 1946 in der „Neue Hamburger Presse“ zitiert. Der ehemalige Testa-Mitarbeiter ist einer der Hauptbelastungszeugen in dem Prozeß, der klären soll, inwieweit die Angeklagten über den wahren Verwendungszweck des von ihnen vertriebenen Giftstoffes informiert waren. Deren Verteidiger, die Anwälte Zippel, Stumme und Stegemann, bestreiten bis zum Schluß jegliches Wissen um die grausame Bestimmung des Blausäuregases „Zyklon B“.

Doch die Zeugen, die Anklagevertreter Major Draper aufmarschieren läßt, erinnern sich anders. Emil Sehm berichtet von einer Notiz, die Tesch über eine seiner Geschäftsreisen gemacht hat. Danach hatte sich Tesch mit führenden Wehrmachtsangehörigen getroffen, die die unhygienischen Aspekte des bisherigen Vernichtungsvorganges, der Erschießungen und vor allem der Massenbestattungen bemängelten. Tesch habe der Wehrmacht daraufhin verschiedene Möglichkeiten (Errichtung von Gaskammern, Verbrennen der Leichen, etc.) unterbreitet. Sehm gibt an, er habe sich den Inhalt des Tesch-Reiseberichtes auf einen kleinen Zettel notiert. Doch dann sei ihm sein Wissen zu gefährlich geworden und so habe er den Zettel am nächsten Tag in der Wohnung seines Freundes Wilhelm Pook „im Aschenbecher verbrannt“. Das „Hamburger Nachrichten-Blatt“ berichtet am 5. März von den Aussagen zweier weiterer Zeugen – das Ehepaar Pook –, nach denen „der ,Reisebericht', eine der schwersten und überzeugendsten Belastungen, als ziemlich sicher erwiesen gelten kann“.

Daß Tesch von dem Verwendungszweck des Zyklon B gewußt habe, bestätigen auch Erna Biagini und Anna Uenzelmann, Stenographinnen der Testa. Biagini berichtet von einem weiteren „Reisebericht“, in dem Tesch erläutert habe, daß das Ungeziefer-Bekämpfungsmittel auch zur Tötung von Menschen verwendet werden könne. Uenzelmann erinnert sich an ein Gespräch, bei dem sich Tesch angesichts der Tatsache, daß Zyklon B zur Ermordung von Menschen benutzt wurde, ebenso geschockt gezeigt habe wie sie selbst.

Belastet wird der Testa-Chef auch von SS-Unterscharführer Bahr, ehemals als „Sanitäter“ in Neuengamme tätig. Er sagt aus, 1942 an einem Blausäurekurs im SS-Krankenhaus Oranienburg teilgenommen zu haben, der von Dr. Bruno Tesch geleitet worden sei. Als dieser auf den Zeugen Bahr angesprochen wird, gibt er „nach einigem Zögern zu, daß der SS-Mann, der in Neuengamme zweihundert Russen vergaste, sein Schüler gewesen ist“ (Hamburger Nachrichten-Blatt vom 5. März '46).

Trotz all dieser belastenden Aussagen bestreiten die Angeklagten weiterhin jedes Wissen um die eigentliche Bestimmung des Giftgases, das sie so eifrig vertrieben haben. Die Frage, ob er bei Kenntnis des wahren Verwendungszwecks des Zyklon B die Lieferungen gestoppt haben würde, bejaht Tesch: für derartige Lieferungen habe er keine Konzession besessen. In einem KZ sei er lediglich zweimal gewesen. „Die Leute, mit denen ich sprach, machten mir einen zufriedenen Eindruck, sie waren gut genährt“, zitiert ihn die „Neue Hamburger Presse“ am 6. März. Dem gegenüber steht die Aussage von Joachim Drosihn. Er habe, gibt er an, Tesch seine Eindrücke aus den KZs Ravensbrück und Sachsenhausen geschildert, erschüttert darüber, „daß dort Menschen, auch Frauen, wie Tiere vor schwere Lastwagen gespannt waren“. Auf die Nachfrage Major Drapers, ob Tesch dann also lüge, wenn er jegliche Kenntnis der KZ-Realität bestreite, sagt Drosihn: „Ja, ich habe es ihm genau erzählt.“

Schwierigkeiten bereitet den Richtern – Brigadekommandeur Persse (Vorsitzender), Leutnant Palmer und Major Johnstone – die Rolle Karl Weinbachers, seine rechtliche Stellung als Prokurist und die spezielle Situation bei Tesch & Stabenow. Während des Kreuzverhörs belastet Tesch seinen Mitarbeiter schwer. Der habe über alle Einzelheiten des Verkaufs von Zyklon B Bescheid gewußt, in seiner Abwesenheit sämtliche Geschäfte geleitet; ja, er sei sogar mit einem Prozent am Umsatz, später mit einem Prozent am Gewinn beteiligt gewesen. Die Frage, ob auch Drosihn vom Verkauf des Zyklon B gewußt haben könnte, verneint Tesch allerdings.

In den Jahren 1942/43 lieferte die Testa neunzehn Tonnen Zyklon B nach Auschwitz. Laut Anklagevertreter Draper war Auschwitz zu dieser Zeit der zweitgrößte Kunde der Firma. Im Geschäftsjahr 1942 betrug der Reingewinn der Firma Tesch & Stabenow 71.000 Reichsmark.

Das Gericht ist von der Schuld der Angeklagten Tesch und Weinbacher überzeugt. Am 9. März meldet die „Neue Hamburger Presse“ auf Seite 3: „Urteil im ,Zyklon B'-Prozeß. Die Strafe: Tod durch Erhängen für Tesch und Weinbacher.“ Dem leitenden Gastechniker der Testa, Joachim Drosihn, vermochte das Gericht keine Schuld nachzuweisen. Er wurde freigesprochen.

In Nürnberg wurde vom 27. August 1947 bis zur Verkündung des Urteils am 30. Juli 1948 gegen 23 Mitarbeiter der I.G. Farben prozessiert. Diejenigen, die verurteilt wurden, waren 1951 wieder frei; einige kamen erneut in führenden Stellungen der deutschen Chemieindustrie unter. Der Leitende Direktor der Degesch, Dr. Gerhard Peters, beschäftigte ab 1949 zahlreiche Gerichte der Bundesrepublik. In seinem achten Verfahren wurde er 1955 freigesprochen. Die Kosten des Verfahrens trug die Staatskasse.

„Befehlsnotstand“ war in den Kriegsverbrecherprozessen ab dem Frühjahr 1946 das von Angeklagten und Verteidigern gern ins Feld geführte Argument. Nachdem im März die überlebenden Spitzen des NS-Regimes im ersten „Nürnberger Prozeß“ abgeurteilt, die Großen also gehängt worden waren, rechneten sich die „Kleinen“ schon wieder Chancen aus, laufengelassen zu werden.

So auch in den „Curio-Haus-Prozessen“, in denen die britische Militärjustiz den NS-Verbrechen im Hamburger Raum beizukommen dachte. Bis zum Sommer 1948 dauerten die Verfahren an der Rothenbaumchaussee. Angeklagt waren Angehörige des Wachpersonals der KZs Neuengamme und Ravensbrück, des „Arbeitslagers Nordmark“ in Kiel-Hassee, des Gestapo-Gefängnisses Fuhlsbüttel.

Im Neuengamme-Prozeß verhängten die Richter im Mai 1946 gegen 11 von 14 Angeklagten die Todesstrafe, zwei Jahre darauf wurden in den letzten beiden Hassee-Verfahren drei Angeklagte freigesprochen, der vierte erhielt fünf Jahre Haft.

Ein wenig bekanntes Beispiel für die Urteilsstrenge der frühen Verfahren ist der Zyklon-B-Prozeß vom 1. bis 8. März 1946. Angeklagt waren drei Angehörige der Hamburger Firma Tesch & Stabenow (Testa), Internationale Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung m.b.H. am Meßberghof: Inhaber Dr. Bruno Tesch (nicht zu verwechseln mit dem Gewerbeschüler und Sozialisten Bruno Tesch, der 1933 im Zusammenhang mit dem Altonaer Blutsonntag widerrechtlich hingerichtet wurde), sein Prokurist Karl Weinbacher und der erste Gastechniker der Firma, Joachim Drosihn.