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Hitlerbegeisterung und Kinderangst

■ Hamburger Stadtteile unterm Hakenkreuz, nächster Teil / Heute: Fuhlsbüttel

Zuerst der Flughafen. Und dann: ein romantischer Flußlauf, Parks, Villen, Backsteinmoderne und urige Reetdachhäuser – das sind die Bilder, die wohl den meisten Hamburgern beim Stichwort „Fuhlsbüttel“ im Kopf herumschwirren. Viele Stadtführer bemühen sich, diese Bilder aufrechtzuerhalten, und auch zahlreiche heimatgeschichtliche Veröffentlichungen „vergessen“ gerne die Berücksichtigung negativer Aspekte.

Darüber ärgern sich die Mitglieder der Willi-Bredel-Gesellschaft-Geschichtswerkstatt. Seit der Gründung ihrer Initiative zur Erforschung der Stadtteilgeschichte 1988 – zeitgleich mit der Einrichtung der KZ-Gedenkstätte Fuhlsbüttel – suchten sie Kontakt zu Zeitzeugen, die aus den dreißiger bis vierziger Jahren viel Erschreckendes zu berichten hatten. Und sie fanden eine Menge schriftliche Quellen zur Nazizeit in Fuhlsbüttel, die unter anderem belegen, daß die NSDAP dort bei den Reichstagswahlen 1932 und '33 besonders viele Wähler hatte.

Aus dieser Arbeit entstand das jetzt erschienene Buch Fuhlsbüttel unterm Hakenkreuz. Anhand reich illustrierter Berichte werden die idyllischen Trugbilder hier endgültig abgehängt: Zeitzeugen und Forscher belegen gefühlvoll und deutlich, wie leidvoll das Leben in Fuhlsbüttel sein konnte.

Gundel Grünert, Hartwig Baumbach und Erna Mayer – alle geboren in den zwanziger Jahren – erzählen in den ersten drei Texten der Dokumentation von ihrer Kindheit und Jugend. Aus der eigenen Sicht und in eigenen Worten beschreiben die Fuhlsbüttler, die alle aus oppositionellen Familien stammen, ihre Lebensumstände bei Arbeitsverbot der Eltern oder Gefangenschaft des Vaters im „Kolafu“ (Konzentrationslager Fuhlsbüttel). Hunger, Angst und Kinderspiele stehen als Themen dieser Berichte genauso nebeneinander wie die Schwierigkeiten bei der Freundschaft mit Juden und der kindliche Wunsch, dem BDM oder der HJ beizutreten.

Im zweiten Teil des Buches stellen drei Forscher der Geschichtswerkstatt Ergebnisse ihrer Arbeit vor. Silke Kaiser schreibt über „Jüdische Frauen in Mischehen“, ein Interview mit einer 1906 geborenen Frau steht dabei im Mittelpunkt.

Während hier der anfangs eingeschlagene Weg der „oral history“ weitergegangen wird, entscheiden sich Holger Tilicki und Hans-Kai Möller für die traditionell wissenschaftliche Vorgehensweise. Ihre mit vielen Anmerkungen versehenen Beiträge über die Kirche und über ausländische Zwangsarbeiter in Fuhlsbüttel legen Fakten aus schriftlichen Quellen frei. So erfährt man zum Beispiel vom Wirken der „Deutschen Christen, Gau Hamburg, Ortsgruppe Fuhlsbüttel-Langenhorn“, oder man findet Aufschluß über die Ernährung der „Ostarbeiter“.

Zwar wird hier die Kohärenz des Gesamtwerkes gebrochen, doch geschieht dies zugunsten des Themenreichtums. So gelingt es den Herausgebern, neben Geschichten aus der Nachbarschaft auch Einblick in wissenschaftliche Betätigungsgebiete zu bieten. Indirekt fordern sie dadurch nicht nur zum Weiterreden, sondern auch zum Weiterforschen auf.

Nele-Marie Brüdgam

Fuhlsbüttel unterm Hakenkreuz. Herausgegeben von der Willi-Bredel-Gesellschaft-Geschichtswerkstatt, Dölling und Galitz Verlag, 109 Seiten, 24,80 Mark

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