„Fidel, fidel!“

Leander Haußmann gastweise an der Volksbühne: Realistisch gemein und überaus lustig inszenierte er Gerhart Hauptmanns „Einsame Menschen“  ■ Von Petra Kohse

Hunderten und Tausenden geht es nicht besser“ steht auf dem Programmplakat. Das ist sicher richtig. Nur sieht man denen nicht so gern zu. Woran sich schon zeigt, daß es Leander Haußmann gelungen ist, aus Gerhart Hauptmanns schwerfällig nach der Natur gestalteten „Einsamen Menschen“ herrliche Theaterfiguren zu machen. Denn so wie es 1890 geschrieben wurde, würde man dieses Intellektuellendrama ebenfalls nicht sehen wollen: Ein schwacher Mann und verkannter Philosoph zwischen Familie und Freiheit, unattraktivem Dummchen und aparter Studentin, Religion und Reformgedanken. Eine Wahl, die Hauptmanns Johannes Vockerat nicht zu treffen vermag. Nachdem er mehrfach versucht hat, seine Familie durch Suiziddrohungen zur Duldung seiner platonischen Geliebten zu bewegen, bringt er sich tatsächlich um. Schauplatz ist ein Haus am Müggelsee.

In der Inszenierung von Leander Haußmann ist glücklicherweise alles etwas anders. Hier mißlingt Vockerat nicht nur der Selbstmord, sondern seine Frau ist rundweg bezaubernd und verläßt ihn am Ende. Auch sind die Eltern nicht mehr so dämlich, und das ganze geschwätzige Stück wurde überhaupt gehörig entschlackt und sprechbar gemacht (Dramaturgie: Matthias Pees).

Der 35jährige Haußmann, seit dieser Spielzeit Intendant in Bochum, inszenierte in Berlin zuletzt Schillers „Don Carlos“, passenderweise im Schiller Theater, im Sommer 1993, kurz vor dessen Schließung. Seinerzeit zeigte er stärkere Castorf-Einflüsse als heute, stellte dessen Stilmittel der konzeptionellen Entgleisung aber schon damals in den Dienst einer Figurenpsychologie. So sprang etwa Dirk Nocker als Carlos mitten ins Publikum, um von dort in irrer Seligkeit die Himmelsglocken zu dirigieren, weil er einen Brief der Königin erhalten hatte.

Die „Einsamen Menschen“ sind aus verständlichen Gründen kaum so exaltiert. Und doch kommt in dieser Inszenierung auch in den trostlosesten Situationen eine grundsätzliche Lebensbejahung zum Ausdruck, eine spontane Kraft, für die man den Regisseur und die Darsteller einfach lieben muß. Gerade mit den Castorf- Schauspielern, mit Bruno Cathomas als Vockerat, Kathrin Angerer als seiner Frau, mit Susanne Düllmann und Gerd Preusche als Eltern, mit Peter René Lüdicke als Freund des Hauses und Astrid Meyerfeldt als intellektueller Geliebten funktioniert Haußmanns Stil ideal.

Sie bringen soviel Individualismus mit auf die Bühne, daß die Psychologie stets durch eine souveräne Distanz gebrochen wird — das Stück wird durch seine Kommentierung gerettet. Hauptmanns freudlose These, daß Menschen aus verschiedenen Geisteswelten eben nicht zusammenleben können, gerät zu einem spannenden Überlebenskampf, bei dem jeder recht hat und das auf kunstvoll alltägliche Weise zeigt.

Leider hat Stefan Mayer eine allzu brave Kulissenbühne gebastelt, die auch noch überraschungslos bespielt wird. So steht der Wohnzimmertisch des bürgerlich engen Raumes in einer Versenkung, und die meisten Auseinandersetzungen finden natürlich auch dort statt. Und hinter einer transparenten Landschaftsprojektion lockt die Freiheit, doch gezähmt in einer Art Wintergarten. Am Ende werden die Kulissen dann demontiert, bricht der Himmel herein und versuchen die Figuren hilflos, sich in der Weite zu positionieren.

Haußmann hat den Geist des Hauses charmant in seine Inszenierung hineingenommen. Da singt die Familie beim Essen das „Danke“-Lied aus Marthalers „Murx ihn“, da fährt ein Spielzeug über die Bühne wie der kleine Penis in Castorfs „Stadt der Frauen“, und Kathrin Angerer stimmt später auch noch das entsprechende Lied dazu an: „Una donna sensa huomo...“. Ganz zu schweigen davon, daß Lüdicke als Maler Braun durchaus figurenkompatibel eine Castorf-Paraphrase spielt: Er trägt die gleiche kleine, runde Brille, spricht so nuschelig berlinisch, gestikuliert so fahrig und guckt muffig und zerwühlt.

Cathomas als Vockerat hat alle Biederkeit der Vorlage abgelegt. Er ist ganz und gar das verwöhnte Kind, das sein Spielzeug, Fräulein Anna, haben und behalten will. Im „Gespräch unter Männern“ mit seinem Vater knautscht er wie ein Plumpsack auf dem eher zierlichen Sessel, so daß dieser wirkt wie ein Lehnstuhl und er selbst wie ein Vierjähriger.

Und Kathrin Angerer als Frau Käthe ist hinreißend. Sie schafft es, in Strumpfsocken zum Seidenhänger würdevoll über die Bühne zu trippeln, hat einen Schmollmund und setzt doch nicht nur auf die reine Kindlichkeit. Wie sie anfänglich ihren depressiv-cholerischen Gatten mehrfach ermahnt: „Fidel, fidel!“ zu sein (ein Ausdruck, den im Stück Vockerat selbst benutzt) und dabei so ehrlich vorwurfsvoll aufrecht dasteht, ist allein schon den fast vierstündigen Abend wert.

Immer wieder finden sich Szenen, die so gemein lustig sind, wie wenn Susanne Düllmann als Mutter beim Frühstück dem Fräulein Anna ihre Zuneigung versichert und sich dabei voller Abscheu gegen imaginäre Bienen wehrt. Überhaupt Fräulein Anna. Meyerfeldt vereint den emanzipierten Blaustrumpf mit dem Vamp und ringt dem verführerischen Egoismus dann doch momentweise eine erstaunliche Warmherzigkeit ab. Und alles ist bei allen so selbstverständlich und sofort einleuchtend. Diese Inszenierung zeigt tatsächlich nicht mehr und nicht weniger, als daß es Menschen gibt, denen es nicht besser geht als Hunderten und Tausenden anderen. Aber diese sechs möchte man am liebsten gleich heute wieder besuchen.

„Einsame Menschen“ von Gerhart Hauptmann. Regie: Leander Haußmann, nächste Vorstellungen: heute und morgen, 19.30 Uhr, Volksbühne, Rosa-Luxemburg- Platz, Mitte