Ethnische Kuscheleckchen gibt es nicht

Die Eingliederung in ein normales Leben für jugendliche Flüchtlinge statt Ausgliederungslehrgängen aus der Schule hat sich die Tempelhofer Stephan-Schule zum Ziel gesetzt  ■ Von Eberhard Seidel-Pielen

„Oh, ich sehe, wir haben einen neuen Mitschüler.“ Alltag an der Werner-Stephan-Schule. „Wie heißt du denn?“ Die Lehrerin geht auf den schmächtigen Jungen zu, gibt ihm die Hand. Der lächelt freundlich zurück, antwortet aber nicht. „Woher kommst du?“ – „Aus einem Dorf bei Erzincan. Seit ein paar Tagen wohne ich in Berlin. Meine Eltern haben mich weggeschickt, damit ich weiterhin die Schule besuchen kann“, erzählt Serkan (14) schließlich leise und stockend in einfachem Türkisch. Er hat Glück im Unglück. Ein älterer Bruder lebt in Berlin. Nur so konnte der Junge die deutsche Grenze überwinden.

Während die Kunstlehrerin Sanem Kleff sich ein wenig mit ihm unterhält, sitzt Alem aus Äthiopien mit konzentriertem Ernst über der Aufgabe, die Schule aus der Vogelperspektive zu zeichnen. Die Sechzehnjährige ist eine von Tausenden alleinreisenden, minderjährigen Flüchtlingen, die Jahr für Jahr aus Krisenregionen in der Bundesrepublik stranden. Ihre Eltern sind tot.

Abenteuerliche Bilder werden produziert. Logeswaran (15) aus Sri Lanka verpflanzt Palmen ins winterliche Berlin. Mersudin (15) aus Bosnien verliert sich in einem dichten Vogelschwarm. Vier Mädchen beugen sich über das Arbeitsergebnis von Aysel (16). Mit einem Wortschatz von zwanzig deutschen Worten wird die Qualität beurteilt.

Nicht nur die internationale Besetzung unterscheidet den Eingliederungslehrgang C 1 von anderen Klassen im Land. Die Gesichter der Schülerinnen rücken die Nachrichten aus den Krisenregionen näher. Einige sind verschlossen, in anderen spiegeln sich Schrecken, Mord und Totschlag wieder. „In dem Eingliederungslehrgang werden die Kinder behutsam an die deutsche Sprache herangeführt“, erläutert Sanem Kleff. In den ersten Monaten gehe es vor allem um Befindlichkeiten. Die Wohnsituation sei zu klären, das Asylverfahren einzuleiten. Sind sie stabilisiert, steigen sie in die Regelklassen an der Schule ein, in denen sie gemeinsam mit deutschen Schülern unterrichtet werden.

Das Thema des Unterrichts im Einführungslehrgang läßt sich in einem Wort zusammenfassen: „Ich.“ Von den Schülern gemalte Aquarelle schmücken den Klassenraum – „Meine Familie und ich“, „Meine Stadt und ich“. Jeder hat traumatische Erlebnisse zu verarbeiten – Kriegserlebnisse, zerrissene Familien, Fluchterfahrungen. Schließlich gibt es keinen Grund, weshalb 14jährige freiwillig das Land wechseln sollten.

Seit zehn Jahren bietet die Werner-Stephan-Schule wie andere Schulen auch Eingliederungslehrgänge an. „In Wahrheit sind diese Eingliederungslehrgänge in den meisten Schulen allerdings Ausgliederungslehrgänge“, kritisiert Sanem Kleff. Sind die Schüler mit sechzehn Jahren der Schulpflicht entwachsen, werden sie häufig ohne Abschlüsse und damit ohne berufliche Zukunftsperspektiven auf die Straße gesetzt. Nicht so in Tempelhof. „Unser Ziel ist es, niemanden ohne Abschluß zu entlassen“, erläutert Siegfried Arnz, Leiter der Ausnahmeschule.

Mit diesem Anspruch hat das Kollegium hohe Anforderungen an sich gestellt. Nicht nur die Zusammensetzung der Schülerschaft ändert sich durch die Seiteneinsteiger ständig, mit jedem Kind tauchen neue Nationalitäten auf.

Funktionieren kann eine solche Schule nur mit Pädagogen, die mit beiden Beinen auf solidem Fundament stehen, genau wissen, weshalb sie ausgerechnet an der Werner-Stephan-Schule unterrichten. Zunächst gilt es, ethnische Konflikte vom Unterrichtsalltag fernzuhalten, sie zu einer rationalen Einrichtung der Wissensvermittlung zu machen. „Wir stellen bereits bei der Einstellung klar, daß keine Beleidigungen und Diskriminierungen toleriert werden und Toleranz gegenüber Andersartigkeit oberstes Gebot ist“, bemerkt der Schulleiter zum Thema.

In einem Diskussionsprozeß haben die Klassensprecher gemeinsam mit dem Vertrauenslehrer zehn verbindliche Regeln erstellt. Es sind Regeln der Höflichkeit, des guten Benehmens und bewährter bürgerlicher Umgangsformen. „Auf die Einhaltung dieser Regeln bestehen wir mit aller Strenge“, betont Arnz. Den Luxus einer Laisser-faire-Haltung kann sich die Schule nicht leisten. In der Vergangenheit hatte sie in der Nachbarschaft den Ruf einer wilden „Kanakenschule“. Gewalt im Umfeld der Schule tat das übrige. Davon ist nichts mehr zu merken.

Die Atmosphäre habe sich schlagartig verbessert, als sich die Schule bewußt auf die schwierige Schülerschaft einstellte. Mit Sondermitteln wurde sowohl eine Cafeteria als auch eine Schulstation eingerichtet. Den Vormittag steht eine Lehrerin Schülern zur Verfügung, die wegen Depressionen, Streitigkeiten oder anderer Probleme nicht in der Lage sind, dem Unterricht zu folgen.

Als genialer Schachzug hat sich die Einführung des 40-Minuten- Modells erwiesen. Die durch die fünfminütige Verkürzung eingesparte Arbeitszeit wird von den Lehrern in einer der dreißig Arbeitsgemeinschaften reinvestiert, die nach Schulschluß angeboten werden. Jeder Schüler sollte an einem der Kurse teilnehmen. Für jeden ist etwas geboten – Badminton, Mofakurs, PC-Kurse, Tanz, Aerobic und Stadterkundungen. Wer sich durch die Flure und Klassenzimmer der Werner-Stephan- Schule bewegt, ist überrascht über das geringe Ausmaß an Vandalismus.

Allen Horrorszenarien über die desolate Hauptschule als Restschule für die Gescheiterten und Chancenlosen wird hier widersprochen. Schautafeln, selbst Blumentöpfe und -beete bleiben unangetastet. „Nachdem Schüler und Lehrer in gemeinsamen Arbeiten die Schule attraktiver machten, achten die Schüler darauf, daß nichts zerstört wird“, erläutert Arnz.

So multikulturell die Zusammensetzung der Schülerschaft an der Werner-Stephan-Schule auch ist, in der Ausstattung der Klassenzimmer und Flure schlägt sich die Mischung nicht nieder. Dazu Sanem Kleff: „Wir verzichten auf kulturspezifische Hinweise. In binationalen Schulen wie in Kreuzberg mag es sich aufdrängen, deutsches und türkisches gegenüberzustellen. Hier würde das nicht funktionieren. Wir arbeiten nicht mit unterschiedlichen Formeln, jeder hat das gleiche zu bringen.“

Tatsächlich zeigt sich in der Praxis, daß Kulturspezifisches erst Konflikte erzeugen kann, über gebotene Identifikationsmuster Ethnisierungen konstruiert werden. Nach ethnischen Kuscheleckchen sucht man deshalb in der Werner- Stephan-Schule vergeblich.

Aufregung in der Klasse 9 beim Kunstunterricht. Bevor Sanem Kleff mit dem Unterricht beginnen kann, schlagen die Emotionen hoch. „Ich möchte in eine andere Klasse. Hier halte ich es nicht aus.“ Verzweifelt weist ein Mädchen darauf hin, da sie keinesfalls mehr den Unterricht gemeinsam mit Sabah besuchen wird. Nach anfänglicher Ratlosigkeit schaltet sich eine Mitschülerin ein, erläutert, daß die beiden sich mal geliebt hätten, nun auseinander seien. Nach kurzer Diskussion gibt Kleff den künftigen Kurs vor: „Egal, was zwischen euch gelaufen ist, wir werden das nächste halbe Jahr zusammenarbeiten!“ Und zu Sabah: „Du wirst sie nicht belästigen, ihr werdet nicht streiten!“ Die zehn Schüler im Alter zwischen 16 und 18 Jahren kamen vor zwei, drei Jahren nach Berlin. Um Lichtjahre unterscheidet sich ihr Verhalten von den Schülern des Eingliederungslehrgangs, den auch sie einst durchlaufen hatten. Es wird auf Deutsch gewitzelt. Selbstbewußte Teenager sitzen da, modisch gekleidet und mit klaren Zukunftsvorstellungen. An der Rückwand des Klassenraumes hängen Polaroidfotos und Kurzbiographien der Schüler mit ihren Zukunftsvorstellungen. Fast alle Berichte enden mit dem Satz: „Wenn es geht, möchte ich in Deutschland leben und arbeiten.“ An der rechten Seite sind die Arbeitsgruppenergebnisse zu Berufswünschen gepinnt. Die Lieblingsberufe: Polizist und Arzthelferin.

Heute wird entschieden, welche Projekte im nächsten Halbjahr im Kunstunterricht realisiert werden sollen. Ein Mädchen schlägt vor, etwas aus Streichhölzern zu bauen. „Ich habe so etwas zu Hause, weiß aber nicht, ob es kaputt ist.“ – „Hier in Berlin?“ fragt Kleff. „Nein, in meiner Heimat.“ Die liegt irgendwo in Bosnien.

Es wird über Materialien geredet. Soll mit Stoff, Papier oder Dosen gearbeitet werden? Assoziationen werden laut geäußert. Und die Gedanken schweifen immer wieder weg von Berlin. „Ich möchte, daß jeder von uns eine Geschichte über bosnische Leute schreibt, wir daraus so eine Art Buch machen“, schlägt eine Schülerin vor. Thema: „Wie ist das, wenn jetzt Leute zurückgehen, Freundschaften auseinanderbrechen.“ Ihre Nachbarin: „Ich möchte eine Geschichte über den Krieg schreiben, ein paar Bilder aussuchen, beschreiben, was wir dazu denken.“ Der Krieg – ein immer wiederkehrendes Motiv in der Klasse.

Demokratie ist mühsam. Das Abstimmungsverfahren zieht sich in die Länge. Der Vorschlag der Lehrerin, ein bedrucktes T-Shirt für das Sommerfest der Schule zu fabrizieren, stößt schließlich auf begeisterte Zustimmung.

Am heutigen Samstag findet von 11.00 bis 13.00 Uhr ein Tag der offenen Tür in der Werner-Stephan- Schule, Alt-Tempelhof 53-57, statt