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Und dann ist es Abend

Was treiben Jugendliche in ihrer Freizeit? Vier Porträts von Berliner Kids  ■ Notiert von Christine Berger

Sandra*, 14

Eine Passage am Alexanderplatz. Menschen mit hochgeschlagenen Kragen hasten kurz vor Geschäftsschluß vorüber. Den Jugendlichen am Rande würdigen nur die wenigsten eines Blickes. Fast täglich sitzen hier die 14jährige Sandra und ihre Freunde auf dem kalten Pflaster, trinken Bier und rauchen.

Die 12- bis 16jährigen sind Straßenkinder. Sie wohnen in den leerstehenden Häusern der Umgebung, manche kommen auch von weiter her, denn der Alex eignet sich ziemlich gut zum Schnorren. „Morgens gegen zwölfe steh' ich auf, dann treff' ich mich mit Freunden, gehn wir Schnorren und dann ist es Abend“, skizziert Sandra ihren Alltag. Das Mädchen mit den leuchtend grünen Haaren und der abgewetzten Lederjacke zählt sich zu den Punks, ihrer „Ersatzfamilie“. „Punks sind immer füreinander da und lassen keinen hängen“, sagt sie.

Freizeit ist für sie das ganze Leben, und auch wieder nicht, „denn ich muß mir täglich organisieren, was ich brauche“. Das fängt bei den Klamotten an und hört beim Wannenbad auf. Letzteres gehört eher zu den unwichtigeren Dingen, weshalb Sandra mit Hautkrankheiten zu kämpfen hat.

Zur Schule geht sie schon lange nicht mehr, zu ihren Eltern in Luckenwalde hat sie nur noch losen Kontakt. Streß mit dem Stiefvater und Schwierigkeiten in der Schule waren für das pummelige Mädchen Grund genug, mit zwölf das erste Mal von zu Hause auszureißen. Nachdem sie der Kindernotdienst zweimal wieder zu einem Neuanfang mit den Eltern überredet hatte, blieb sie beim dritten Mal endgültig in Berlin.

Pläne für die Zukunft hat sie keine, ihre einzige Furcht ist, „daß uns der Hausbesitzer irgendwann rausschmeißt“, aber das ist momentan eher unwahrscheinlich, denn der Mann sitzt im Knast.

Susanne*, 13

Der Jugendclub in der Wilhelmstraße sieht ein bißchen aus wie das Innere eines Wals. Fleischfarbene Wände, blauer Boden, darüber ein warmes Licht. Für Mädchen wie Susanne, deren Eltern den ganzen Tag arbeiten, ist der Club eine Art zweites Zuhause. Hier trifft sich die Gymnasiastin nach der Schule mit ihren Freundinnen und – derzeit für sie das Wichtigste – kann sich im Flirten üben. Susanne und ihre Freundinnen beschäftigen sich gerade besonders mit dem Thema Schlußmachen. „Das ist viel komplizierter als mit den Jungen gehen“, weiß sie mittlerweile. Leider haben ihre Eltern etwas dagegen, daß sie sich schon so intensiv für das andere Geschlecht interessiert. Besonders wenn der Junge älter ist als sie, muß sie aus dem Liebes- ein Versteckspiel machen. Ein Glück, daß es wenigstens Claudia, Verena, Petra und die anderen gibt, mit denen sie Liebeskummer und andere Sorgen teilen kann. Mit ihrem letzten Freund hat sie gerade Schluß gemacht, „weil der mehr wollte als küssen“.

Wenn sich Susanne nicht gerade mit ihren Freundinnen über Jungs unterhält, spielen sie im Jugendclub Kicker oder stehen in der Küche. Einmal in der Woche kochen sie für Obdachlose, natürlich gemeinsam mit der Sozialarbeiterin, die auch neulich einen Workshop zum Thema „Freundinnen“ organisiert hat. Die kolorierten Fotos, die dabei entstanden sind, wurden sogar in einer Behörde in der Nähe ausgestellt. Ein Foto zeigt die Mädchen beim Tuscheln, darunter steht geschrieben: „Ein sehr interessantes Thema, aber immer dasselbe – Jungs!“.

Metin*, 14

Am liebsten wäre Metin reich. „Dann hätte ich auch viele Mädchen im Schlepptau, eben wie ein echter Gangsta“, sagt der kurdische Kreuzberger lachend und meint es dennoch bierernst. HipHop, und der damit verbundene Lebensstil sind für ihn fast alles im Leben. In seiner Gang, die aus rund zwanzig Jungen und Mädchen besteht, fühlt er sich geborgen. „Wir sind immer füreinander da, egal welche Scheiße jemand angestellt hat“, sagt er. Die Tatsache, daß er nur noch sporadisch zur Schule geht, ist in seiner Clique nichts Besonderes und gehört vielleicht sogar ein bißchen zum guten Ton. Daß er wenig Chancen hat, jemals einen vernünftigen Job zu bekommen, ist ihm egal. „Dann steige ich eben bei der Mafia ein“, meint er zuversichtlich. Seine Vorbilder sieht er sowieso in den Videos auf MTV als im täglichen Leben.

Hängt Metin nicht vor dem elterlichen Fernseher ab, trifft er sich mit seiner Gang auf der Straße und manchmal auch im Jugendclub. Dort kickert er eine Runde, sitzt herum und wartet darauf, daß irgend jemand eine Idee hat, was man anstellen könnte. Selten kommt dabei etwas Gutes heraus, aber was tut man nicht alles für ein bißchen Abenteuer. Neulich haben sie im Treppenhaus des Jugendclubs mit Feuerlöschern herumgespritzt. Prompt hat die Freizeiteinrichtung dichtgemacht, und das mitten im Winter. „Auf der Straße ist es ja nicht zum Aushalten, aber was soll man machen?“ Kurzerhand haben Metin und seine Kumpel die Sache ins reine gebracht. Immerhin: Der Jugendclub ist wieder offen.

Dirk*, 17

Daß er mit Mädchen nicht so gut zurechtkommt, hat Dirk zum ersten Mal vor drei Jahren entdeckt. Da war er in einen Jungen aus der Parallelklasse verknallt. „Das war schlimm, weil ich immer Angst hatte, daß es jemand merkt“, sagt er und ist froh, „das Thema Schule abgehakt zu haben“. Ständig fühlte er sich bei seinen Mitschülern unter Druck, weil er im Gebuhle um das weibliche Geschlecht nicht mitreden konnte und wollte.

Seit einem halben Jahr macht Dirk eine Tischlerlehre in einer kleinen Werkstatt. Als er dort anfing, hat er gleich die Karten auf den Tisch gelegt und sich geoutet. Für die Kollegen im Betrieb war sein Schwulsein kein Problem. „Wenn ich mich nicht verstecken muß, geht's mir gut“, sagt er.

Einen Großteil seiner Freizeit verbringt Dirk im Sonntagsclub, einer Vereinigung für Schwule, Lesben und Bisexuelle. Dort hilft er in der Jugendgruppe mit, Partys oder Volleyballturniere zu organisieren. Für ihn ist seine Sexualität mittlerweile so normal, daß er manchmal erstaunt guckt, wenn ein Neuling erzählt, welche Ängste mit seinem Schwulsein verbunden sind. Nicht zuletzt liegt das an seinem toleranten Elternhaus. „Meine Liebhaber durften immer zu Hause bei mir übernachten.“

Wenn er nicht im Sonntagsclub den Abend verbringt, zieht er mit Freunden auch mal durch die Berliner Schwulen-Clubs, aber meist hat er die Anmache schnell satt. „Die Szene denkt immer gleich, hoppla, da kommt Frischfleisch.“

*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

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