■ VLB: Mädchenalltag
Wer sich von dem erlesen scheußlichen Titel des neuen Buchs von Gerhard Henschel anlocken läßt, wird nicht bereuen, seiner Neugier nachzugeben: „Lesen ist Essen auf Rädern im Kopf“ versammelt einige kleinere Werke völlig zu Recht unter dem Rubrum „elegante Geschichten“. Henschel ist ein Meister der Uneigentlichkeit. Man kennt ihn als verdienstvollen Lumpensammler von seinen Aufräumarbeiten über den Dissidentenkitsch der Wendezeit (wissen Sie noch: Auschwitz in den Seelen! Vgl. Henschels „Menschlich viel Fieses“, Edition Tiamat, 1992) und über den linken Kitsch im allgemeinen („Das Blöken der Lämmer“, Edition Tiamat, 1994). Das waren verdienstvolle briefings über den laufenden Schwachsinn, der kondensierte strahlende Schwurbel dieser Jahre, aufbereitet und in zwei glänzenden literarischen Castor-Behältern für die ewigliche Endlagerung bereitgestellt. Bewundernswert schien mir seinerzeit schon, was dieser Mann sich alles – von Bohley und Bahro bis Wecker und Wondratschek – hereingezogen hat, ohne bleibende Schäden davonzutragen.
Das neue Buch nun erweist, daß sich beim Abarbeiten des Verfehlten ganz eigene Fähigkeiten beim Umgang mit sprachlichen Sekundärrohstoffen gebildet haben. Am stärksten kommt das in den freien Stücken heraus, die nicht mehr in satirischer Absicht zitieren und referieren. Henschel redet in Zungen, er borgt sich hier ein paar Worte, da einen Tonfall, manchmal setzt er an zu parodieren, und dann merkt man plötzlich, daß die Parodie nur ein Vorwand ist, um aus dem sprachlichen Tand absonderliche kleine Kunstwerke zu basteln. So etwa in der Geschichte „Ein Mädchen sucht Ruhe“: „Aber Ruhe ist im Trubel des modernen Mädchenalltags kaum aufzutreiben. Ständig werden die Entspannung und verwandte Tätigkeiten nachhaltig blockiert von Aktivitäten wie Diskobesuchen, Pauken, Flirts, Telefonieren, Beten, Rechnen, Kochen und Kuscheln. Daraus resultieren Niedergeschlagenheit und Verdruß, die sich über die Mädchen legen wie ein schlanker Nebel oder wie ein graues, mager aufgetürmtes Gitter der Zerrissenheit.“
Der Band löst das Glücksversprechen seines Titels unter anderem durch mehrere rätselhafte Anekdoten aus dem Bereich Nahrungsmittel und Genußwaren ein: „Einbrecher machten Koteletts heiß: Horumersiel. Statt Zigaretten und Alkohol zu stehlen, wie es bei einem Kioskeinbruch eigentlich üblich ist, kamen unbekannte Täter am Strand von Horumersiel jetzt auf eine andere Idee. Sie ließen die Rauschmittel ,links liegen' und machten sich dafür in der Friteuse Koteletts heiß. Der Sachschaden wird noch geprüft.“
Gerhard Henschel: „Lesen ist Essen auf Rädern im Kopf. Elegante Geschichten“. Verlag Weißer Stein, 1995. 125 Seiten, 28 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen