■ Die Grünen brauchen einen neuen Anlauf zu einer Reformpolitik, die die Menschen überzeugt, nicht abschreckt
: Den Tanker bewegen

Den Tanker bewegen oder sich von ihm abkoppeln? Das ist die Alternative, vor der Bündnis 90/Die Grünen in Nordrhein-Westfalen steht. Das Schlingern von einer Krise zur nächsten, der SPD-Stil des Diktats statt der Diskussion, die Konzentration der ersten rot- grünen Koalition im industriellen Kernland der Republik auf ihr eigenes Innenleben – dies alles droht das Vertrauen auch der vehementesten Anhänger der rot-grünen Option zu verbrauchen.

Als wir im Mai die Zehnprozentmarke erklommen und die SPD ihre absolute Mehrheit verlor, sahen viele schon ein neues rot- grünes Zeitalter heraufbrechen. In zähen Verhandlungen, an deren Dramatik die Auseinandersetzungen der letzten Wochen erinnern, gelang es, einen Koalitionsvertrag zu schließen, der besser ist als sein Ruf. Sicher, er läßt einiges mit und vieles ohne Absicht offen; es gibt Formulierungen, aus denen die Partner Unterschiedliches herauslesen. Und nicht wenige Konflikte sind in Prüfaufträge gekleidet, werden also nach der Prüfung wahrscheinlich wieder aufbrechen.

Dennoch, in seiner Substanz gibt der Vertrag die Richtung vor für einen Einstieg in sozial-ökologische Reformpolitik. Mit diesem Einstieg haben wir auf vielen Feldern begonnen. Das sagen mittlerweile immer mehr Initiativen und BasisvertreterInnen, die die zarten Pflänzchen, die nach acht Monaten sprießen, wachsen lassen wollen.

So ist in die Abfall- und Landwirtschaftspolitik Bewegung gekommen; im Flüchtlingsbereich wurde eine Härtefallkommission gebildet; neue arbeitsmarktpolitische Programme, wie die sozialen Betriebe, an die zu SPD-Zeiten nicht im Traum zu denken war, werden eingeführt; wir starten eine Offensive für die erneuerbaren Energien; ökologisches Bauen wird zum Standard in der Wohnungsbauförderung. Und auch im Bundesrat agiert NRW anders als zuvor, nicht nur, wenn es um Verfahrensbeschleunigungen auf Kosten demokratischer Standards geht; auch für den Großen Lauschangriff wird NRWs Stimme fehlen. Den deutlichsten Niederschlag, und darin ist sich die grüne Landtagsfraktion einig, fand der Koalitionsvertrag im Verhandlungsergebnis zum Haushalt 1996.

Gleichzeitig mit diesen – öffentlich kaum wahrgenommenen – Erfolgen entwickelten sich Konflikte zu Themen, die für die jeweiligen Identitäten von Grünen und SPD von zentraler Bedeutung sind. Sie liegen sämtlich im Spannungsfeld von Ökonomie und Ökologie – und das nicht zufällig. Die dramatisch anwachsende Arbeitslosigkeit ist das alles beherrschende Thema. Hier liegt die Bewährungsprobe fürs grüne Mitregieren.

Teile der SPD, die nach wie vor an die traditionellen Konzepte des Wachstums um jeden Preis glauben, mühen sich nun, die Ökologie endgültig als Thema niederen Ranges einzuordnen, geeignet nur für bessere Zeiten. Arbeit, Arbeit, Arbeit statt Arbeit und Umwelt. Jede Drohung eines Stellenabzugs wird so zum politischen Erpressungsversuch, jeder neue Kilometer Autobahn zur arbeitsmarktpolitischen Großtat. Daß zukunftsfähige Arbeitsplätze nur im Einklang mit den ökologischen Erfordernissen zu schaffen sind, geht dabei über Bord.

Daß Koalitionspartner Konkurrenten bleiben und bei ihrer Zusammenarbeit die eigenen politischen Konturen nicht verlieren dürfen, ist eine Binse. Jenseits dessen gibt es aber einen inneren Strategiekonflikt in der SPD. Die einen wissen, daß die absolute Mehrheit in Nordrhein-Westfalen futsch und im Bund unerreichbar ist; sie wollen teils aus inhaltlichen Gründen, teils nur mangels Alternative eine rot-grüne Reformperspektive. Die anderen hängen der Illusion an, die Landtagswahl sei ein einmaliger Ausrutscher gewesen. Wenn man nur hart genug an die Grünen rangehe und deren Spielraum einenge, werde bei der nächsten Wahl schon wieder alles gut werden. Daraus erklären sich die Versuche, zu demütigen und umzuinterpretieren, was vereinbart wurde. Diese Strategie führt schnurstracks in die Große Koalition – möglicherweise über eine Minderheitsregierung.

Die SPD muß sich entscheiden, welchen Weg sie gehen will. Wir können, wir dürfen ihr diese Entscheidung nicht abnehmen.

Aber auch bei Bündnis 90/Die Grünen gibt es Klärungsbedarf. Wir müssen zurückkehren zu der Erkenntnis, die bei der Bildung der Koalition immer wieder ausgesprochen wurde: Nur mit langem Atem wird es möglich sein, gerade mit der nordrhein-westfälischen SPD, die uns vor der Wahl „nicht einmal ignorieren“ wollte, Reformen schrittweise durchzusetzen. Das gilt gerade für die Verkehrspolitik, wo im Hinblick auf den Öffentlichen Personennahverkehr und die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene erste Erfolge sichtbar sind, wo aber für die Wende in der Flughafen- und Straßenbauförderung noch lange Zeit dicke Bretter zu bohren sind.

Gerade hier besteht die Gefahr, die alte, schon vor zehn Jahren verworfene „Knackpunktstrategie“ wieder zu verfolgen, diesmal unter Regierungsbedingungen: Man definiere einige „Knackpunkte“ für die Zusammenarbeit mit der SPD, erkläre sie zu unter keinen Umständen beweglichen Fixsternen am Koalitionshimmel und spitze dann die Auseinandersetzung ultimativ darauf zu. Alle Erfahrungen zeigen, daß das nicht funktioniert. Nicht der Fokus auf Einzelpunkte, sondern nur eine vergleichende Betrachtung, die Erfolge und Mißerfolge, Erfahrungen und Aussichten abwägt, taugt nach innen als analytische Grundlage und ist nach außen vermittelbar. Dabei werden dann auch die Alternativen sichtbar: Mit uns streitet die SPD über 2,5 Kilometer Autobahn, mit der CDU einigt sie sich in Windeseile über 100.

Außerdem führt die neue alte „Knackpunktstrategie“ dazu, daß öffentlich nur Konflikte wahrgenommen werden, Erfolge aber untergehen. Diese zu „verkaufen“ ist uns bislang nicht gelungen. Wir haben eben auch ein Imageproblem. So weiß kaum jemand, daß sieben geplante Müllverbrennungsanlagen gestoppt werden. Die Stimmung bestimmt die eine Anlage, die wider alle Vernunft in Köln installiert werden soll.

Wir können, wir müssen in Düsseldorf aus der vertrackten Situation herauskommen. So, wie es ist, kann es nicht bleiben. Für uns Grüne nicht. Und auch nicht für die Perspektive von Rot-Grün. Die würde bei einem Bruch auf lange Sicht zur Sackgasse. Wir brauchen einen neuen Anlauf zu einer Reformpolitik, die ausstrahlt, die Menschen überzeugt, statt sie abzuschrecken. Wer von Bord geht, nimmt die gegebenen Chancen zur gesellschaftlichen Veränderung nicht wahr. Michael Vesper