Steinalt mit 24

■ Neue Leiden der jungen Technogeneration: Mit "Ganz nah dran" versucht Stefan Pucher sich als Aufarbeiter der Postpubertät. Das Frankfurter TAT wird zum Club

„Jede von unseren Handbewegungen hat einen besonderen Sinn, weil wir Teil einer Jugendbewegung sind.“ Nur schön ist es eben nicht, dieses Jungsein, es ist zu anstrengend: die richtigen Klamotten tragen, mit netten Leuten zusammensein, auf Parties gehen, die neuesten Drogen nehmen, ungehemmten Sex haben und dabei immer gut drauf sein, angetrieben von dieser Sehnsucht nach Dabeisein, Dazugehören und Authentizität.

Das ist, man weiß es, eine Chimäre. Etwas anderes als Secondhand-Erfahrungen gibt es nicht. Dem Gefühl, das diese Einsicht erzeugt, hat der Regisseur Stefan Pucher – knapp jenseits der magischen Altersgrenze von 30 Jahren – eine einstündige Performance mit dem schönen Titel „Ganz nah dran“ gewidmet.

Sechs PerformerInnen, drei davon Mitglieder der englischen Gruppe The Gob Squad, lassen sich von DJ „Dan“ Haaksman und dem Keyboarder Markus Denker auf einen Trip in die Abgründe der Seele schicken, die sie selbstironisch vor dem Publikum ausbreiten. Tanzend und singend sammeln sie biographische Bruchstücke, ohne daß daraus je eine eigene Geschichte würde. In diesen Erinnerungsstrom gleitet man als Zuschauer mühelos hinein, in den eigenen Gedanken von einer vertrauten, tiefen, sonoren Männerstimme an die Hand genommen.

Stefan Pucher hat den Sprecher unzähliger Kinder- und Jugendschallplatten, Hans Paetsch, aufgespürt und mit dem 85jährigen eine LP produziert, auf der er Partygeschichten liest. Allein mit der Präsenz dieser Stimme im Theater wird der Anschluß einer ganzen Generation an das Medium Schallplatte, verbunden mit dem Gefühl des Aufgehobenseins in einem Kontinuum des Märchenerzählens, als Schlüssel zur eigenen Wahrnehmung der Wirklichkeit erfahrbar. Wer einmal an der Plattennadel hängt, kommt von ihr nicht mehr los...

Die TAT-Probebühne in der Daimlerstraße sieht aus wie ein Club, in der Mitte des nackten, schwarzen Raumes eine DJ-Insel, eingefaßt von einer plüschigen weißen Konsole, auf der ein paar verlorene, gelangweilt erwartungsvoll vor sich hinstarrende Partygänger hocken.

Magere Gestalten der Nacht, understylt in weißen Hosen und Hemdchen in babyrosa und hellblau, ausgestattet mit kleinen weißen Täschchen, die nach Erster Hilfe aussehen. Auf den Klamotten stehen ermutigende Parolen wie „I'm still standing“, „Everything must go“ und „All is simple“. Der Mann am Keyboard klimpert „Je t'aime“ und „Dream is my reality“. Vom „night fever, night fever“ erfaßt schleichen die Partyvögel auf die Tanzfläche, genauer zu den Mikrophonen, die in jeder Ecke vor einer Zuschauertribüne aufgebaut sind, und verrenken ihre Körper zu stark verlangsamten ekstatischen Tanzbewegungen, jeder für sich und sich treffend im gemeinsamen „Dancing like there was no tomorrow“.

Der DJ fährt die Märchenplatte ab, einen Take aus dem Roman „Faserland“ (genau der: von Tempo-Berater Christian Kracht), bei dem ein Mann und eine Frau auf Ecstasy einen verheißungsvoll beginnenden Versuch unternehmen, Sex zu haben, der sein jähes Ende darin findet, daß sie sich plötzlich übergeben muß.

Wo der Text endet, setzt die Performerin Berit Stumof mit ihrem improvisierten Spiel ein. Völlig verpeilt, out of control, torkelt sie durch ein virtuelles Partygeschehen. Ihre Paranoia, sie könnte unangenehm auffallen, wird von den beruhigenden und steuernden Anweisungen der Mitspieler aufgefangen. Auf ihrem Horrortrip begegnet sie ihrem ehemaligen Biologielehrer, den sie kurzerhand erwürgt und in einer Splatter- Szene übelst zurichtet.

Voll Mitgefühl verfolgt man ihren Absturz, der in völliger Konfusion darüber endet, wie der Abend, der gelaufen ist, zu beenden wäre: in den nächsten Laden ziehen, einen Typ abschleppen, nach Hause gehen, studieren, Karriere machen, erst mal ins Ausland gehen, auf die Auszahlung des Bausparvertrags warten, den die Eltern vor vier Jahren abgeschlossen haben...? Mit 24 ist man schon ziemlich alt.

Alt genug, um im eigenen Fotoalbum zu blättern und sich daran zu erinnern, daß es noch nicht so lange her ist, daß man als Baby glücklich in eine Kamera gelächelt hat.

Stefan Pucher führt den Kult vor, den jede Jugendkultur um die Banalität des Lebens treibt, bevor sie in der absoluten Spießigkeit mündet. Sein Theater ist selbst ein Versuch, dem postpubertären Dilemma zu entkommen, die eigene Jugend nicht zu verraten und trotzdem ein Künstler zu werden.

Aus der Handbewegung, die nur für Insider einen besonderen Sinn hatte, muß eine Theatergeste werden, die Insignien der Jugendkultur werden als Bestandteil eines Ambient-Theaters ausgestellt. Am Schluß heißt es fast entschuldigend: Man muß leben. Man muß arbeiten. Kathrin Tiedemann

„Ganz nah dran“ von Stefan Pucher (Konzept und Regie), DJ: Daniel Haaksman, Keyboard: Markus Denker, TAT Frankfurt/ Main, Probebühne Daimlerstraße