■ Jelzin mißbraucht Tschetschenien als Wahlkampfthema
: Vor den Augen des Westens

Mit der Flugzeugentführung, die am Wochenende auf dem Münchener Flughafen endete, ist der Tschetschenien-Konflikt innerhalb weniger Wochen nun bereits zum zweiten Mal über die Grenzen Rußlands nach Europa geschwappt. Wieder einmal wurde die Weltöffentlichkeit unsanft daran erinnert, wovor doch alle lieber die Augen verschließen: daß das mörderische Schlachten in Tschetschenien ununterbrochen weitergeht und tagtäglich unzählige Unschuldige in diesem wahnwitzigen Krieg ihr Leben lassen.

Doch das ist nebensächlich. Vielmehr wird Rußland feierlich in den Europarat aufgenommen und heimst Milliardenkredite ein. Und wie unlängt Bundeskanzler Kohl eindrucksvoll demonstrierte, ist es allemal bequemer, den russischen Präsidenten Boris Jelzin als Demokraten zu hofieren, der den Krieg in Tschetschenien schon friedlich beenden werde.

Wie das in praxi aussieht, zeigen die Bilder und Berichte aus dem Kaukasus, obwohl Moskau nichts unversucht läßt, mit der Verbreitung von Unwahrheiten die reale Situation herunterzuspielen. In Grosny wird seit mehreren Tagen erbarmungslos gekämpft, die wirkliche Zahl der Opfer ist nicht annähernd bekannt. Die Stadt Sernowodsk, in der unzählige Zivilisten eingeschlossen sind, wird mit Artillerie beschossen, da sich dort angeblich Rebellen verbarrikadiert hätten.

Da mutet es schon wie Zynismus an, wenn Verteidigungsminister Pawel Gratschow bei seinem Kurzbesuch in Grosny vor zerbombten Kulissen vom bevorstehenden Frieden faselt, natürlich ganz im Sinne Boris Jelzins. Denn der hat sich den Kaukasus-Konflikt zum Wahlkampfthema auserkoren und möchte sich gern als Friedensstifter feiern lassen. Doch spätestens seit der ergebnislosen Sitzung des Sicherheitsrates in der letzten Woche dürfte klar sein, daß es dafür überhaupt noch kein Konzept gibt und wahrscheinlich in absehbarer Zeit auch nicht geben wird. Es wird eben weiter gebombt und getötet, wie in all den Monaten vorher.

Mit Erleichterung verwiesen die Kommentatoren am Wochenende darauf, daß die Entführung nicht, wie zunächst angenommen, von Tschetschenien aus organisiert war, sondern es sich nur um einen Einzeltäter handelte. Mit anderen Worten: einen Spinner. Wer so redet, hat absolut nichts begriffen. Vielleicht wird er erst aufwachen, wenn bei einer erneuten Entführung die ersten toten Geiseln zu beklagen sind. Barbara Oertel