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■ Nebensachen aus WashingtonRatten lieben Schlaglöcher

Schlaglöcher sind keine Nebensachen. Schlaglöcher sind Indizien für den Zustand einer Stadt. Schlaglöcher sind auch die Ursache für die angeknackste Vorderachse des Autos meiner Freundin Clarice. „Paß auf“, habe ich ihr noch am Telefon gesagt, „kurz vor der Residenz des französischen Botschafters kommt ein ganz dickes Ding, ungefähr so groß wie eine Badewanne. Da mußt du auf die Gegenspur.“ Aber ich vergaß, die beiden kleinen „Dinger“ vor der chinesischen Botschaft zu erwähnen. Weswegen Clarices Auto jetzt in der Werkstatt ist, und ich mit schlechtem Gewissen seit Tagen das „pothole department“, die Schlagloch-Abteilung, der Washingtoner Stadtverwaltung zu alarmieren versuche.

Das ist eigentlich sinnlos, die Schlaglöcher werden bleiben, weil das Haushaltsloch der Stadt inzwischen das Ausmaß eines mittelgroßen Mondkraters hat. Und so sehen die Straßen auch aus. Das Leben, das auf dieser Mondoberfläche am besten gedeiht, sind Ratten. Ratten lieben Schlaglöcher, weil an denen langsam aber sicher der Fuhrpark der städtischen Müllabfuhr zugrunde geht. Ratten lieben Haushaltslöcher, weil das Gesundheitsamt wegen Personalmangels kaum noch Restaurants und deren Abfallhalden in den Hinterhöfen inspiziert.

Apropos Gesundheit: Um Taxis macht Clarice trotz schlaglochbedingtem Verzicht auf ihr Auto einen großen Bogen, weil Washingtons Taxifahrer derzeit als Risikogruppe für Tuberkulose gelten. Die Rate der TB- Kranken in der Stadt ist doppelt so hoch wie der Landesdurchschnitt. Die Röntgenabteilung der städtischen TB-Klinik muß immer wieder schließen, weil sie kein Geld für Film und Entwickler hat.

Also fährt Clarice U-Bahn. Die funktioniert noch.

Während Clarice mit dem schleichenden Notstand amerikanisch-pragmatisch umgeht und Wasserfilter und Monatskarten heranschafft, gehe ich deutsch-philosophisch heran und diagnostiziere an mir selbst eine ganz neue Affinität für staatliche Institutionen. Daß das Drogendezernat der Polizei seine Büros zu verlieren droht, weil die Stadt die Miete nicht mehr bezahlen kann, finde ich höchst bedenklich, zumal man sich hier beim Betreten mancher Supermärkte mit einem höflichen „excuse me“ an Dealern vorbeischlängeln muß. Daß kein Geld mehr für den Strafvollzug zur Verfügung steht, könnte man als Schritt zu einer repressionsfreien Gesellschaft interpretieren. Hier in Washington überlege ich ernsthaft, eine Sammelaktion zu starten. 1.600 der 11.000 Häftlinge in der Stadt sind HIV-positiv. Die Gefängnisleitung wäre ja bereit, Kondome zu verteilen. Sie hat aber kein Geld, um welche zu kaufen.

So betrachtet, sind Schlaglöcher doch Nebensachen. „Man muß es positiv sehen“, sagt meine Freundin Clarice und wedelt mit der Rechnung der Autowerkstatt, „immerhin bin ich kein Tbc-kranker Taxifahrer.“ Und immerhin hat jemand die „Badewanne“ vor der Residenz des französischen Botschafters mit einer Matratze zugedeckt. Andrea Böhm

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