Bloßes Mitleid ist wertlos

■ Jörg Steiner erzählt eine bitterernste Geschichte um das Haben und Nichthaben von Arbeit, um Erniedrigung und Warten

Warum läßt Bernhard Greif seinen Schirm zuhause, obwohl er mit Regen rechnet? Es gibt „nichts Lächerlicheres als einen Arbeitslosen mit Schirm bei trockenem Wetter. Der Nebel löst sich auf, und da steht, unter klarem Himmmel, mit dem Schirm am Arm, ein Überängstlicher. Der Schirm zur falschen Zeit macht seinen Mangel an Wirklichkeitssinn sichtbar. Er verrät die Mutlosigkeit des Schirmträgers, seine Unangepaßtheit, seine Untauglichkeit, seine Unvermittelbarkeit.“ Und das ist nach über vierhundert Tagen Arbeitslosigkeit noch nicht alles. Der Mechaniker Greif versucht gegen das Stigma der Untauglichkeit anzugehen, indem er früher aufsteht als die Bürger in Arbeit und Brot, einen geregelten Plan davon hat, wann er wohin geht, auf Pünktlichkeit achtet und sich in der öffentlichen Toilette rasiert. Von seinem Arbeitsplatz ist ihm nur noch der Kollege und die Illusion des täglichen Feierabends geblieben. Von den Stadtstreichern trennt ihn außer seinem Zimmer der feste Wille, daß es soweit mit ihm nicht kommen darf – und die Hoffnung auf einen großen Lottogewinn. Er ist selbstbewußt und in der sozialen Hierarchie noch nicht ganz unten, doch Solidarität können sich Greif und sein Kollege nicht mehr leisten: In der Mensa des Gymnasiums werden sie nämlich nur wegen des Versprechens geduldet, den Tip nicht an andere weiterzugeben. Die Menge machts – hier allerdings in negativem Sinne: Der Hauswart fürchtet den Ansturm der sozial Schwachen.

Jörg Steiner ist kein Schriftsteller mit Tonbandgerät, der den Benachteiligten der Gesellschaft durch das Aufschreiben ihrer Lebensläufe Öffentlichkeit verschaffen will. Greifs Denken und Handeln wird durch die gewichtigen Details in seinem Leben erahnbar. Hier liegt die Stärke des Buches. Vieles bleibt unausgesprochen und ist umso ergreifender. Vorsicht! Das Lesen dieses Psychogramms zerstört jede Gleichgültigkeit und kann das traurige Gefühl eines plötzlichen Endes hinterlassen. Mit dem Schriftsteller allerdings, der den Satz "Armut zwingt zum Denken“ von Greif und seinem Kollegen geschenkt haben möchte, wird die Grenze zum Sentimentalen erreicht. Auf Sentimentalität und Mitleid sind die beiden Arbeitslosen nicht aus; für den Kollegen ist bloßes Mitleid „nichts als Abfall, wertloser als die Blätterhaufen, die in der Allee liegenbleiben.“

Nicht nur angesichts der über 4 Millionen offiziellen Arbeitslosen in Deutschland ist dies ein großes Thema. Da tut es keinen Abbruch, daß Greif in der Schweiz arbeitslos ist. Diese großartige Erzählprosa kann für jedes der beiden Länder gelesen werden.

Ralf E. Werner

Jörg Steiner: Der Kollege; Suhrkamp Verlag, 71 S., 28.00 Mark.