Widerstand der Seelen

■ Forschungsprojekt: Kulturelle Aktivitäten in NS-Konzentrationslagern

Die Einschätzung von kulturellen Tätigkeiten in nationalsozialistischen Konzentrationslagern ist schwierig. Sie halfen nicht, den Arbeitsdienst physisch zu überstehen, nützten „weder zur Orientierung noch zum Verstehen“ (Primo Levi). Trotzdem gab es hinter dem starkstromgeladenen Stacheldraht offizielle, halboffizielle und illegale Musikaufführungen, Dichterlesungen, Kino und Kabarett. Kultur im Konzentrationslager war verboten, geduldet und gefördert als Instrument der Unterdrückung. In Sachsenhausen spielte die offizielle Lagerkapelle Heimat- und Volkslieder von „Hab' mein Wagen voll geladen“ bis zu den „Moorsoldaten“, festgehalten im „Sachsenhausen-Liederbuch“.

Allein zur propagandistischen Täuschung benutzte im Vorzeigelager Theresienstadt das Lagerkommando eine Swingkapelle oder die Bildergalerie. Zur sadistischen Erbauung der SS-Wachmannschaften spielte das Mädchenorchester von Auschwitz. Ironischerweise waren die Konzentrationslager somit die einzigen Orte unter deutscher Herrschaft, in denen die Reinheitsregeln Nürnberger Provenienz gebrochen wurden: Jüdische Musiker durften „arische“ Musik spielen, sie mußten es sogar. Höhepunkt des monströsen Zynismus waren die Musikkapellen, die den Gang der Millionen in die Gaskammern mit beschwingten Marschmelodien begleiten mußten.

In Zusammenarbeit mit der Universität Regensburg will sich die Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten nun den verschiedenen Formen widmen, in denen Kultur in Konzentrationslagern stattfand. Kulturelle Aktivitäten als Instrument der Unterdrückung sollen untersucht werden, aber vor allem in ihrer Kraft, Überlebensstrategie zu sein.

Erstes Etappenziel des auf drei Jahre angelegten, von der Volkswagenstiftung teilfinanzierten Projektes – das letzte Woche auf einer Pressekonferenz vorgestellt wurde – ist die Liedersammlung des polnischen Komponisten Alexander Kulisiewicz, der insgesamt mehr als 700 „illegale“ Gedichte und Lieder aus 35 Konzentrationslagern gesammelt und niedergeschrieben hat. Sein 2.200 Seiten starkes Manuskript will der Forschungsverbund zum ersten Mal in deutscher Übersetzung veröffentlichen.

Kulisiewicz war von 1939 bis Mai 1945 in Sachsenhausen als politischer Häftling interniert. Dort organisierte er Gesangsabende und schrieb oder vertonte insgesamt 54 Lieder. Offenbar wegen seines erstaunlichen Gedächtnisses – das jedenfalls vermuten die Regensburger Forscher – vertrauten andere Häftlinge ihre Lieder und Gedichte seinem geistigen Archiv an. Die Forscher vermuten, der Wille, die Texte und Melodien zu überliefern, habe seinen Überlebenswillen gestärkt. Bewahrt hat Kulisiewicz sowohl frivole Gedichte als auch parodistische Texte, Lieder des Hasses – und der Sehnsucht: „Mein Tor, wunderschönes Lagertörchen du, / alle schluckst du, keinen läßt du raus! / Mein Tor, mein Tor, du verfluchtes Tor... / Aufgebrochen wirst du Dreckstück, das steht fest!“

Auch den „Jüdischen Todessang“, „Zehn Brüder waren wir gewesen“, von Rozenberg hat er aufbewahrt. Der Choral wurde ein einziges Mal im jüdischen Block 39 von Sachsenhausen vorgetragen, bis die SS-Wachmannschaften – das geht aus Kulisiewicz' Aufzeichnungen hervor – die Baracke mit den Worten „Alles r-raus!!“ gestürmt haben. Rozenberg wurde kurz darauf nach Auschwitz deportiert, Kulisiewicz ergänzte den Choral um das martialische Gebrüll der SS.

Akribisch hat Kulisiewicz nach 1945 sein Manuskript immer wieder überarbeitet und ergänzt, ab Mitte der sechziger Jahre trat er als Interpret der Lieder und Gedichte auf. Bei seinem Tod im Jahr 1982 hinterließ Kulisiewicz 100.000 Seiten Archiv- und 50.000 Meter Tonbandmaterial.

Auch wenn man von „elitären Kulturtheorien“ Abstand nehmen müßte, meint der Regensburger Volkskundler (sic!) Christoph Daxelmüller, war „Kultur integraler Bestandteil des Lageralltags und Ausdruck dafür, daß es sich um Menschen handelte, die sinnlos gequält wurden“. Sie sei „ein Zeichen der geraubten Menschenwürde, letzte Hoffnung und Refugium in einer Welt, die den Menschen zum Tier erniedrigte“.

Wenn sich unabhängige Kultur in der Todesmaschinerie eines Konzentrationslagers entwickeln konnte, dann war das der Raum, in dem die Häftlinge ihren Peinigern widerstanden hätten und in dem sie ihre Identität wahren konnten. Daxelmüller geht so weit, es „Widerstand im Kleinen“ zu nennen. Thekla Dannenberg