Das Versagen der Wahlprognosen

Was Meinungsumfragen für ausgeschlossen hielten, machten die Wähler in München und Nürnberg glatt vor. Mit ihren Stimmen brachten sie rot-grüne Bündnisse in die Krise  ■ Von Felix Berth und Bernd Siegler

Die Bündnisgrünen, so sagten es alle Prognosen voraus, sollten in München die eigentlichen Wahlgewinner werden. Ständig wurden ihnen mindestens zehn Prozent versprochen. Doch gestern, nachdem ein Großteil der Stimmen ausgezählt war, kam die Ernüchterung: vorläufig 7,7 Prozent für die Bündnisgrünen. „Wir sind frustriert“, sagte die dritte Bürgermeisterin, Sabine Csampai. Ihre Erklärung: Möglicherweise habe man die SPD im Wahlkampf zu sehr geschont. „Weil ihr so schlechte Ergebnisse prognostiziert wurden, haben wir sie nicht angegriffen.“ Sie vermutet, deswegen hätten die SDPler einen Mitleidsbonus erhalten.

Das Ergebnis, das die Genossen erzielten, kann sich sehen lassen: 37,9 Prozent, drei Prozent mehr als bei der letzten Wahl. „Froh und erwartungsvoll“ sei man, sagte der SPD-Fraktionschef Dietmar Keese, denn ohne seine Stadträte ist in München kaum eine Mehrheit zu finden. Keese ließ offen, welches seine Wunschkoalition wäre: Eine Zusammenarbeit mit der CSU oder ein rot-grünes Bündnis, das wohl nur dann eine Mehrheit bekommt, wenn zwei Gruppen beteiligt werden: der Stadtrat der Ökopartei „David contra Goliath“ und der Vertreter der schwul-lesbischen „Rosa Liste“, der erstmals ins Rathaus einzieht.

Die CSU sieht sich als klarer Gewinner der Münchner Wahl. „Es gibt in Deutschland keine Millionenstadt, in der das bürgerliche Lager die 40 Prozent übertroffen hat. Der CSU ist das in München gelungen“, sagte der Münchner Vorsitzende, Peter Gauweiler, gestern mittag. Am Nachmittag zeichnete sich jedoch ab: Auch die CSU erreichte die 40-Prozent- Marke voraussichtlich nicht.

Gauweiler verzichtete in seiner Erklärung auf Rechenspiele, ob eine Mehrheit ohne SPD erreichbar sei. Denn nach der Auszählung bis gestern mittag wäre dies unter Einschluß der Republikaner, der FDP, der „Autofahrerpartei“ und des „Bund Freier Bürger“ eventuell möglich. Statt dessen forderte Gauweiler von der SPD eine große Koalition, denn „die Aussperrung der CSU aus dem Rathaus“ müsse ein Ende haben.

Blasse CSU-Typen kommen ganz groß raus

In Nürnberg hat die CSU die langersehnte Wende geschafft. Seit Kriegsende regieren in der Halbmillionen-Stadt SPD-Oberbürgermeister, und seit 50 Jahren haben auch im Stadtrat die Sozis, in den letzten vierzehn Jahren zusammen mit den Grünen, die Mehrheit. Diese Zeiten sind nun vorbei.

Der blasse CSU-OB-Kandidat Ludwig Scholz, von der SPD-Parteispitze bei der Nominierung leise belächelt, zwang mit sensationellen 44,1 Prozent den seit neun Jahren amtierenden Peter Schönlein in die Stichwahl. Schönlein kam gerade mal auf 44,5 Prozent. Auch wenn es Schönlein im zweiten Wahlgang schaffen sollte, die „schwarze Flut“, wie er die CSU nennt, ist längst ins Nürnberger Rathaus geschwappt. Nach 36,9 Prozent 1990 liegt die CSU bei den Stimmzetteln, auf denen jeweils nur die Parteiliste angekreuzt war und nicht einzelne Kandidaten, bei über 47 Prozent und damit bei der Hälfte der zu vergebenden 70 Mandate. Noch immer wird der CSU die größere ökonomische Kompetenz zugeschrieben. Angesichts der mittlerweile zweistelligen Arbeitslosenzahlen kam dies in Nürnberg und Fürth, wo der amtierende SPD-OB Uwe Lichtenberg ebenfalls in die Stichwahl muß, besonders zum Tragen.

Rot-Grün kommt in Nürnberg nur auf knapp 42 Prozent. Die SPD verlor acht Prozent, und Bündnis 90/Die Grünen rangiert bei schlappen bei 6,2 Prozent. Im Wahlkampf verzichteten die Grünen auf inhaltliche Aussagen. Sie plakatierten, es gebe „viele Gründe, die Grünen zu wählen“, ohne einen einzigen davon zu benennen.

Sollte die CSU letztendlich mit den Freien Wählern die Mehrheit im Stadtrat haben, wird sie erst bei den Haushaltsberatungen im Sommer ihre Drohung nach Schließung des Jugendzentrums KOMM und Kürzungen im Kulturbereich wahr machen können. Vorher sind ihnen die Hände gebunden. Die Riege der SPD-Referenten ist für die nächsten Jahre im Amt, auch die Schaltstellen in der Verwaltung sind mit SPD-Getreuen besetzt. Angesichts des Schocks der Niederlage liebäugelt Fraktionschef Jürgen Fischer mittlerweile mit einer Großen Koalition. Für den bundesweit eher als links geltenden Unterbezirk dürfte damit eine Zerreißprobe bevorstehen.