: Megans Gesetz Von Andrea Böhm
Die Frage von Schuld und Sühne beschäftigt die Menschheit seit Urzeiten. Mal steht die Sühne mehr im Vordergrund, mal weniger. In den USA zur Zeit mehr.
Die Todesstrafe ist weit verbreitet und akzeptiert; die automatische lebenslange Freiheitsstrafe für Wiederholungstäter ist ein Wahlkampfhit; der Begriff der „Resozialisierung“ ist aus dem Wortschatz gestrichen. Auch bei den Parlamentsabgeordneten des US-Bundesstaates New York, die letztes Jahr den „Sex Offender Registration Act“ verabschiedet hatten
Seitdem müssen sich Sexualstraftäter nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis jährlich bei der Polizei melden, um dort ihre Adresse zu hinterlassen. Der zweite Teil des Gesetzes sollte letzten Freitag in Kraft treten: Eine Telefonauskunft, über die jeder Namen und Anschrift der Exhäftlinge abfragen kann. Vorerst allerdings heißt es: Kein Anschluß unter dieser Nummer.
Bundesrichter Denny Chin vom Federal District Court in Manhattan gab dem Antrag auf eine einstweilige Verfügung gegen die Telefonauskunft statt – bis geklärt ist, ob auf diese Weise die Grundrechte von entlassenen Straftätern verletzt werden. Richter Chin hat sich damit zweifellos unbeliebt gemacht. Das Gesetz, im Volksmund „Megan's law“, genannt, ist das Resultat einer landesweiten Welle der Empörung, nachdem im Nachbarstaat New Jersey ein siebenjähriges Mädchen namens Megan Kanka vergewaltigt und ermordet worden war.
Der Täter stammte aus der Nachbarschaft und war zweimal wegen Sexualdelikten vorbestraft. Seitdem haben 47 Bundesstaaten Gesetze verabschiedet, die entlassenen Sexualstraftätern eine polizeiliche Meldepflicht auferlegen; in 20 Bundesstaaten sind die Behörden verpflichtet, Anwohner zu informieren, sollte einer der Betreffenden in ihre Nachbarschaft ziehen. Das alles, um „Familien mit den notwendigen Informationen auszustatten, um ihre Kinder vor gefährlichen Pädophilen und sexuell Perversen zu schützen“, erklärt New Yorks Generalstaatsanwalt, Dennis Vacco. Vacco verschweigt allerdings, daß dieses Konzept in den letzten Monaten einige „rechtschaffene“ Bürger mit den notwendigen Informationen ausgestattet hat, mit oder ohne Alkoholeinfluß einigen der Haftentlassenen Prügel, den Galgen oder die Kugel anzudrohen.
Datenschutz ist in den USA kein sonderlich populäres Thema. Datenschutz für Kinderschänder und Vergewaltiger zu fordern, wäre für jeden Politiker Selbstmord. Es bleibt deshalb Bürgerrechtsorganisationen – in diesem Fall der New Yorker Legal Aid Society – die undankbare Aufgabe vorbehalten, der Öffentlichkeit und den Gerichten klarzumachen, daß ein Einzelfall, so brutal und abscheulich er auch sein mag, kein Anlaß sein kann, Verfassungsrechte in den Papierkorb zu werfen – zum Beispiel den Grundsatz, daß Straftäter nach Verbüßung ihrer Haft nicht bis an ihr Lebensende stigmatisiert werden können.
Mit solchen Ansichten schwimmt die Legal Aid Society allerdings gegen den Strom der öffentlichen Meinung. Nachdem in mehreren Südstaaten Strafgefangene wieder an die Kette gelegt werden, ist die Wiedereinführung des Prangers auch nicht mehr so unvorstellbar.
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