Ein ernst zu nehmender Hi-Fi-Händler

Er baute Stahltüren ein, lernte schießen und mauerte die Schaufenster zu. Trotzdem ist Claus Bolze gut zwanzigmal in seinem Laden überfallen worden: ein besonderer Fall von Aufschwung Ost  ■ Aus Jävenitz Jens Schmidt

Jävenitz. Es sind nur ein paar Meter von seinem Haus. Drei Dutzend Schritte, um genau zu sein.

Und wer die in der Auto-Wanderkarte eingezeichnete Straße nicht verpaßt, könnte den Umweg, den die B 188 über Gardelegen macht, auch abkürzen. Die Straße, eher eine Waldschneise, wird nur selten genutzt. Die meisten kennen sie nicht. Und die von ihr wissen, wissen auch, daß sie wegen einer Baustelle gesperrt ist. Und nicht zuletzt führt sie durch die Colbitz- Letzlinger Heide, die bis zum Abzug der russischen Truppen ein Übungsplatz war. „Gott sei Dank“, sagt Claus Bolze deshalb, „ist sie nicht ausgeschildert. Sonst würden die mich noch öfter überfallen.“

Claus Bolze ist Elektronikhändler und wohnt in Jävenitz. Jävenitz ist ein 1.099-Seelen-Dorf in der Altmark, eine gute Autostunde nördlich von Magdeburg. Und: Claus Bolze wohnt direkt an der Bundesstraße.

Die Türelektronik des Ladens schlägt an. Dingdong, Dingdong. Bolze unterbricht sich, setzt den „Türken“, wie er seinen Kaffee nennt, ab, und schaut auf den Monitor über der Palme im Wohnzimmer, das hinter dem Laden liegt. Alles in Ordnung. „Das sehe ich denen schon an, wenn sie meinen Laden auskundschaften wollen.“ Es ist ein junges Mädchen, die auf der Suche nach CDs bei Bolzes reinschaut.

Claus Bolze entspannt sich wieder. Er weiß nicht mehr, wie oft er überfallen wurde. Es können 20, es können 22 Einbrüche sein. So ungefähr jedenfalls. Die Versuche mitgerechnet. Der 48jährige erinnert sich aber genau an die Schäden. Obwohl er sich seinen oft total zerstörten Laden nie sofort und selbst anschauen kann – es würde ihm das Herz brechen.

Bolze, der ElectronicPartner von Jävenitz, hat dann morgens immer zu seiner Putzfrau gesagt, sie solle zunächst die Schweinerei wegmachen. Später hat er dann hochgerechnet. Heute ist er bei 250.000 Mark Schaden und bei der Versicherung bekannt. Dafür nicht beliebt.

Seine Geschichte beginnt in der Zeit nach dem Mauerfall. Es gibt noch nicht mal die D-Mark in der DDR, da entschließt sich der forsche Mann von Gardelegen, sein Schicksal in die Hand zu nehmen. Er, selbständiger Handwerksmeister, spezialisiert auf Antennenbau, will in den Westen. Doch seine Frau sagt: Du, wir bleiben hier. Daß es mit einem Laden in der früheren Kreisstadt Gardelegen nicht klappt – nun ja, Bolze kann das wegstecken. Heute, mehr als fünf Jahre später, ist er sogar froh darüber.

Denn wie es der Zufall eben will, es kommt ja, was die Wirtschaft angeht, alles anders in dem Land östlich der Elbe. „In den Großstädten“, weiß Fachhändler Bolze, „zählt das Angebot, macht die Vielfalt das Flair. Da muß man schauen können, da muß man vergleichen.“ In Jävenitz, da gibt es ihn. Da ist Bolze weit und breit und an der Bundesstraße gelegen der einzige ernst zu nehmende Hi-Fi- Händler. „Hier auf dem Land zählt noch Vertrauen.“ Deswegen und weil er mit seiner Frau, als sie ihren Betrieb verließ, auch noch aus der firmeneigenen Wohnung ausziehen mußte, hat Bolze dort gebaut. Und ausschließlich „beratungsintensive Produkte“ im Angebot. „Schund verkaufe ich ja nicht.“ Denn kommen die Leute einmal, kommen die immer. Das ist so in der Altmark, wo kein Bauer arm war in der DDR und wo heute mehr als 20 Prozent aller Menschen arbeitslos sind. Offiziell jedenfalls. „Trotzdem wollen die“, weiß der Händler, „nicht dieses Billigzeugs von der grünen Wiese.“

Es ist also Sommer 1991, und Bolze ist Antennenbauer, Telefonnetzprovider, Plattenhändler und Fernsehfachberater zugleich. Er ist glücklich. Der Kredit – „was haben die mich da übern Tisch gezogen“ – ist gerade ausgezahlt, das Haus noch nicht mal richtig eingerichtet. Vorne 100 Quadratmeter Verkaufsfläche, hinten und oben genügend Platz für Büro und Wohnung mit den Zimmern für die beiden Kinder. Da geht es los. Vier Wochen nach der Eröffnung – Bolze hat soeben die ersten Loewe-Geräte an den Mann gebracht und ist mit Frau und Kindern zum Geburtstag seines Schwagers gefahren –, da wird „ins Schaufenster gegrapscht“. Also: Stein rein, Hand rein, Receiver raus. Bolze reagiert. Die großflächigen Schaufenster erhalten besseres Glas. Sicherheitsglas, das Stück gut 1.000 Mark. Wenn man draufschlägt, lösen sie Alarm aus. Nur Bolze merkt ganz schnell: „Das hätte ich mir sparen können.“ Sechs Wochen später sind die Einbrecher wieder da.

Aber Bolze wäre nicht Bolze und schon gar nicht letztes Jahr deutschlandweiter Umsatzsieger der Loewe-Einzelhändler geworden, wenn er danach aufgegeben hätte. Es hilft ihm alles nichts. Zwei, drei Monate gehen ins Land. Dann kommen sie wieder. Blitzeinbrecher, sagt ihm die Polizei, sind das. „Blitzeinbrecher?“ lacht Bolze – die Brille wie Norbert Blüm, nur kein Kassengestell –, „soviel Zeit wie die hätte ich auch mal haben mögen.“ Runtergebrüllt hat er aus dem oberen Stock, sie sollen abhauen. Das hat die ja gar nicht interessiert. Gardelegen mit dem nächsten Polizeirevier ist eine viertel Autostunde weg.

Die folgenden Wochen werden hart für Bolze und hart für die Familie. Von den Russen in der nahe gelegenen Kaserne besorgt er sich Leuchtspurmunition, die er aus dem Fenster abfeuert. Im Verkaufsraum sind längst Kameras installiert, die die Überfälle aufzeichnen. „Und was soll ich sagen?“ redet sich der Meister so richtig in Rage, „zuerst mußte ich der Kripo einen Videorecorder borgen, und dann haben die mir mitgeteilt, daß sie auf dem Film nichts erkennen würden.“ Das Wichtigste, was ihm die Leute von der Kripo mitgeteilt haben, wenn ein paar Wochen Ruhe war: „Du, Claus, in Salzwedel ist wieder ein Audi verschwunden.“ Tage später stand der nachts vor seiner Tür. Bolze hat die Uhr danach gestellt.

Abends, wie andere Leute, einfach schlafengehen zu können hatte Bolze sich abgewöhnt. Wegen des Lärms beim Einbruch. Das Schlafzimmer verlegte er ans andere Ende des Hauses, da wo einst die Antennenwerkstatt war. Umsonst. Wenn es 2 Uhr morgens wurde, wachte Bolze schweißgebadet auf. „Um 4 Uhr war's dann wieder überstanden.“ So sitzt er in dieser Zeit abends mit seiner Frau Maria-Anna, die Psychologin ist, in der schwarzen Lederwohnlandschaft, wie es jetzt heißt, und schaut nach oben.

Nicht zu Gott, der festen Burg, sondern zu seinen Modellfliegern. Einer richtigen zweimotorigen DC-3. Die Piper kommt erst noch.

Und weil Gott ihm nicht hilft und die Polizei, wie er sagt, irgendwann nicht mal mehr zum Spurennehmen in den Laden kommt, ergreift Bolze die Initiative. Bolze geht in den Schützenverein. „Ich brauchte doch einen Waffenschein.“

Die Einschüsse sieht man noch immer. Oben an der Wand, kurz vor dem ersten Stock. Das waren die Einbrecher, auf die Bolze – als zweiter wohlgemerkt – schließlich auch das Magazin leerfeuerte. „Ich mußte lange schießen, bevor die gemerkt haben, daß ich mich wehre.“ Es war, wie Bolze heute weiß, ein Schuß in den Ofen. Denn eines Tages – etwa nach dem zehnten oder elften Überfall – kriegte Bolze Post. Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen ihn. „Was hatte ich da für eine Angst.“ Sein Rechtsanwalt riet ihm, er solle der Vorladung nicht folgen. Bolze tat dies und baute sein Haus um.

„Als nächstes kamen die Poller vor die Tür.“ Er wollte verhindern, daß die Autos ranfahren und die Gitter gleich mit rausgezerrt werden. Umsonst. In aller Ruhe hackten die Täter – nun paar Meter weiter entfernt – ihr Loch in das Glas, legten eine Brechstange durch und zogen die Scheibe raus. Die Rollgitter wurden reingedrückt.

Als Zeuge stellt er sich jetzt nicht mehr zur Verfügung. „Sinn hat es ja nicht“, ist seine Logik, und hören will es doch keiner.“ Nur eins weiß er, auch wenn es anders in den Zeitungen steht. „Daß das alles Rumänen waren, ist doch Quatsch.“ Selbst Täter aus Dessau glaubte der Jäger von Jävenitz zu erkennen. Nur, trotz Hinweisen und Kameras – inzwischen rund ums Haus –, verurteilt werden die nie. Die Beweise reichen nicht. Bolze besorgte sich also Erolf, einen Schäferhund. Kein Monat, wo der nicht bei einem Einbruch anschlug. „Wenn ich mir überlege, was in der Ostzone los war, falls da mal ein Schnapsladen überfallen wurde.“

Als nächstes änderte Claus Bolze seine Taktik. Beschwerdengestählt durch jahrzehntelanges Leben in der DDR, kampferprobt im Umgang mit örtlichen Organen, schreibt er Briefe an die Kommunal- und Innenpolitiker, beehrt damit sogar den Innenminister. Kommt überhaupt mal Antwort, erfährt er: Der Sachverhalt sei äußerst komplex.

Dingdong. Die Ladentür bimmelt wieder. Diesmal ist es seine Frau, die rausschaut. Sie macht für Bolze die Buchhaltung. Das Telefon, „nein, das war noch nicht dabei“. Glück gehabt. Kein Einbrecher, ein Dorfbewohner.

Die schärfste Waffe, glaubt Bolze schließlich und zückt sie deshalb, das ist die Kommunalwahl. Es ist inzwischen Frühjahr 94, es gibt jetzt Telefone im Osten. Die Polizei hat das Problem immer noch nicht im Griff, und auch in Jävenitz trudeln die Wahlbenachrichtigungen ein. Claus Bolze schickt seine und die seiner Frau zurück. Mit einem Anschreiben. Denn früher, da hat so was ja noch etwas genutzt. Da konnte man auf diesem Wege die Probleme klären. Und heute? „Was soll man davon halten: Die haben mir ja nicht mal geantwortet.“ Bolze ist entsprechend sauer. Zur Wahl gegangen sind die Bolzes selbstverständlich nicht.

Bei dem bislang letzten Überfall haben sie ihm die Tür eingefahren. Claus Bolze, für das Bau- und Sicherheitsgewerbe der Region mit 100.000 Mark inzwischen wichtiger Auftraggeber, hat daraufhin – hinter die beiden Poller – eine Stahlgittertür einsetzen lassen. Mit Superbeton wurde sie im Haus verankert. Die Alarmanlage wurde runderneuert, die Selbstbeteiligung für die Geschäftsversicherung auf 5.000 Mark erhöht.

Und dann ließ Bolze schließlich die Sicherheitsgläser entfernen und die Schaufenster zumauern. Seitdem hat er Ruhe.