Große dunkle Augen und ein kahler Kopf

Die kleine Cheda aus Tschetschenien kämpft gegen Blutkrebs. In einer Moskauer Kinderklinik hat sie Aussicht auf Heilung. Hierher kommen Kinder aus allen Winkeln der Russischen Föderation  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Dr. Alexander Karatschunski, Chefarzt der Leukämiestation des Republik-Kinderkrankenhauses in Moskau, öffnet mit einem müden, aber offenen Lächeln die Tür: „Sehen Sie sich ruhig um!“

Von den 18 Bettchen auf der kleinen, hellen Station steht keines leer. Zusammen mit den ambulant behandelten werden hier fünfzig Kinder betreut. Der Behandlungszyklus dauert in der Regel zwei Jahre. Die PatientInnen stehen mit der Infusionsnadel auf du und du. Innerhalb des kleinen Radius, den ihnen die Schläuche erlauben, laufen sie umher – oder sie sitzen aufrecht in ihren Betten, wie gerade die vierjährige Lera. Während sie am Glucosetropf hängt, malt sie hingebungsvoll mit Buntstiften. „Du bist schlecht, aber ich liebe dich trotzdem“, bemerkt sie beiläufig zu ihrer Mutter. Lera bekommt zur Zeit Dexamethason, ein Hormon, das defätistische Stimmungen und eine querulatorische Haltung gegenüber der Umwelt provoziert. Mutter Ira nimmt das nicht nur gelassen, sondern fast beglückt hin: Ihrer Tochter geht es besser, nichts sonst zählt.

Gleich an zweiter Stelle nach gewaltsamen Verletzungen steht bei Kindern in aller Welt als Todesursache Leukämie: Blutkrebs. Die Krankheit überfällt mit Vorliebe ErdenbürgerInnen zwischen drei und fünf Jahren. Laien denken bei „Leukämie“ an etwas Unheilbares, dabei könnten heute fast achtzig Prozent der Kinder geheilt werden, zumindest von denen, die an der häufigsten Form leiden, der akuten lymphatischen Leukämie. In Rußland kamen bis Ende der achtziger Jahre allerdings nur fünf bis zehn Prozent von ihnen mit dem Leben davon. Im Republik- Kinderkrankenhaus erzielen die Ärzte dagegen seit einigen Jahren erstaunliche Erfolge. Die onkohämatologische Station hat eine revolutionäre Heilungsrate von über siebzig Prozent, schätzt Dr. Karatschunski. Gesicherte Zahlen kann der 35jährige Arzt nicht vorlegen, weil die Station erst seit fünf Jahren mit nachweisbarer Statistik arbeitet.

Die Ursache der Krankheit ist ungeklärt. Sicher ist, daß sie mit der Umweltverschmutzung zunimmt. Auf die Frage, ob er einen Zusammenhang zwischen radioaktiver Strahlung und Kinder- Leukämie sieht, aber lacht Dr. Karatschunski nur: „Wie wollen sie das nachweisen?“ Eine Beobachtung steuert er „rein subjektiv“ bei: „Die bösartigsten Fälle kommen bei uns aus dem Ural, wo sich alle möglichen Umweltkatastrophen überlagern.“ Trotzdem ist die Zahl der Leukämieerkrankungen bei Kindern in der Russischen Föderation prozentual nicht höher als anderswo, etwa dreitausend Fälle im Jahr. Die schwersten von ihnen landen auf der Station von Dr. Karatschunski.

Eine von ihnen ist die kleine Cheda aus Tschetschenien. Während der Krieg manche zur überstürzten Flucht zwingt, hielt er Cheda in ihren Bewegungen auf und verurteilte sie zu langwierigem Siechtum. Wochen vor ihrer Einlieferung trugen die Eltern das fiebernde Kind in Grosny von einem Keller zum anderen. Als sie mit ihr endlich aus dem Bombenkessel freikamen, war die Krankheit schon fortgeschritten.

Cheda, das ist ein mit Haut überspanntes Gerippchen an fünf Infusionsschläuchen. Das sind übergroße, kluge, dunkle Augen und ein kahler Kopf. Cheda hat eine Lungenoperation hinter sich. Ein typischer Eingriff bei leukämiekranken Kindern, denn sie leiden häufig an pilzbedingten Lungenentzündungen. Wie bei Aidskranken fällt ihr Immunsystem auf alle möglichen Infektionen herein. Ansteckung mit zusätzlichen Krankheiten ist die Haupttodesursache bei Kinder- Leukämie. „Heute hat sie zwei Birnen verdrückt!“ freut sich Chedas Vater, Said: „Drei Monaten lang wollte sie nicht essen.“ Stolz zeigt mir Said ein Foto seiner Tochter „vor der Krankheit“: Da steht ein Geschöpf mit Igel-Haarschnitt, das aus seiner Pelle zu platzen droht wie eine Wurst. „Sie gehört zu jenen Mädchen, die mehr wie Jungen sind“, erklärt er: „Solange sie gesund war, hat sie alle Nachbarsjungen versohlt.“

Chedas Chancen sind gut. Und das liegt daran, daß Dr. Alexander Karatschunski Ende 1990 nach Berlin gefahren ist, um am Rudolf- Virchow-Krankenhaus eine halbjährige Ausbildung zu absolvieren. Andere ÄrztInnen der Station folgten ihm. „Seit Ende der siebziger Jahre wurden in vielen Ländern schon über siebzig Prozent der leukämiekranken Kinder geheilt“, erklärt er: „Ich fragte mich also, warum ausgerechnet bei uns so viele sterben mußten. Sie werden vielleicht vermuten, daß es an den entsprechenen Medikamenten fehlte? Aber im erwähnten Zeitraum gab es hier die gleichen Arzneimittel wie in aller Welt. Was – so fragte ich mich – war es dann? Diese Station ist die Antwort auf meine Frage.“

Die Moskauer ÄrztInnen sahen in Berlin vor allem ein ihnen bis dahin unbekanntes Niveau an Service für die kranken Kinder. Dazu kam etwas, was Dr. Karatschunski als „westliche Mentalität“ bezeichnet. Wie auch immer man es nennen mag: Die sieben ÄrztInnen, achtzehn Schwestern und vier medizinisch-technischen AssistentInnen hier sind heute davon durchdrungen.

„Ich würde nicht sagen, daß die Ärzte bei uns früher nicht das Beste für ihre PatientInnen wollten“, meint Karatschunskis Kollegin Dr. Ljudmila Bjelikowa: „Aber jeder auf der Station tat, was er für richtig hielt, das Vorgehen war nicht abgestimmt. Wenn dagegen heute eine Schwester nach Hause geht, weiß sie, daß ihre Nachfolgerin ihre Arbeit genau in ihrem Sinne weiterführt.“ Zusammen mit einem der führenden deutschen Spezialisten für Kinder-Leukämie, Professor Henze, entwickelte Dr. Karatschunski ein Behandlungsschema, das zum Vorbild für viele Länder der Dritten Welt werden könnte. Die toxischen Elemente wurden reduziert, die Bestrahlungsperioden verkürzt. Die stationäre Behandlung beschränkte man auf Phasen intensiver Chemotherapie. Inzwischen hat bereits ein weiteres Moskauer Kinderkrankenhaus diese Behandlung übernommen.

Das Republik-Kinderkrankenhaus hat vor einem Jahr die ganze onkohämatologische Station gründlich umgebaut, vor allem die sanitären Bedingungen wurden verbessert. Die Toiletten und Waschbecken in den 24 Mini-Badezimmern haben jetzt hermetisch abgedichtete Abflüsse – ein sehr wichtiges Detail bei der hohen Anfälligkeit der kleinen PateintInnen für Infektionen. Die ganze Verwandlung hat nicht mehr als 40.000 Mark gekostet. Möglich wurde sie durch die Hilfe der deutschen Stiftung Kontake e.V. Viele der Eltern verschulden sich fürs Leben, um bei ihren Kindern zu bleiben. Den meisten erscheint Geld erst einmal nebensächlich. Zur Zeit sind hier vier Familien aus Tschetschenien. Die Mutter der siebenjährigen Salina aus Grosny denkt an ihre beiden „Kleinen daheim“, nachdem ihr ein Teil der Verantwortung für das älteste Kind hier abgenommen wurde. „Jetzt wird in Grosny gerade dort gekämpft, wo meine Kinder sind“, sagt sie.

Wer von den Elten nicht aus der Nähe stammt, lebt in einem nahe gelegenen Studentenwohnheim. Ein winziges Zimmerchen mit zwei Schlafkojen kostet dort 900.000 Rubel im Monat, etwa 300 Mark. Das ist in Rußland mehr als ein Monatslohn. Salinas Eltern sind arbeitslos, in Moskau wie Grosny. Seit zwei Monaten können sie die Miete im Heim nicht bezahlen. Um sich abzulenken, putzen sie hier die Fußböden und fahren Müll. Reinigungspersonal ist in diesem wie in anderen russischen Krankenhäusern eine Rarität.

Im engen Aufenthaltsraum der ÄrztInnen sitzt um zehn Uhr abends neben einem Stoffhuhn, an einem mit Krümeln bedeckten Tischchen Dr. Ljudmila Bjelikowa, genannt Ljuda, alleinerziehende Mutter eines zehnjährigen Sohnes. Bald wird sie ihren Heimweg antreten – zwei Stunden mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die schlanke junge Frau in Jeans mit blondem Pagenkopf könnte die Heldin einer Ärzte-Fernsehserie sein.

Im Moment ist sie überfordert: „Ich muß hier eine Dosis Antibiotikum verschreiben, da einen Fieberschub kontrollieren, für morgen zwei chemotherapeutische Blöcke durchplanen, und dann...“ – sie holt ein etwa zwanzig Seiten dickes kopiertes Manuskript auf deutsch hervor –, „dann haben wir heute einen neuen Kranken mit Keimzellentumor bekommen. So etwas hatten wir noch nie. Deshalb will ich mir heute noch dieses Behandlungsschema durchlesen. Außerdem liegt zu Hause mein Sohn mit Grippe!“ Plötzlich steigert sich ihr Temperamentsausbruch zu einem komischen Finale: „Dabei hätt' ich Ihnen viel zu erzählen, aber in diesem Streß fällt mir das Wichtigste bestimmt nicht ein.“

Ich frage Ljuda, was denn in ihren Augen diese Station von anderen unterscheidet. „Hier“, überlegt sie, „sind Leute vereint, die noch an die Zukunft glauben. Niemand von uns ist über fünfunddreißig. Der Bildungsstand ist relativ hoch. Fast alle Schwestern bei uns sprechen eine Fremdsprache und haben Auslandserfahrung.“ Da kommt eine pummelige Schwester herein und fragt: „Bei der Kleinen ist jetzt die Temperatur normal, da könnt' ich ihr doch noch eine Dosis Amphoterizin B geben?“ Ljuda nickt. Strahlend zieht die kompakte Person wieder ab, als handele es sich bei dem Medikament um eine Delikatesse.

Im Monat zahlt der russische Staat einer Krankenschwester oder einem Sanitäter mit sämtlichen Zuschlägen umgerechnet etwa 150 Mark, den ÄrztInnen etwa 250 Mark – und das in einer Zeit, in der die Lebensmittelpreise in Moskau die im Westen überholen. In den letzten Monaten hat die Stiftung „Ärzte für Ärzte“ dem Personal hier 100 Mark pro Person dazugegeben. Viele ihrer MitbürgerInnen, für die der Gründerzeit- Taumel des Landes eine schonungslose Profitgier heiligt, mögen die Leute auf dieser Station für verrückt halten. „Es ist die Möglichkeit, ohne Schlamperei zu arbeiten, die sie bei der Stange hält“, meint Dr. Karatschunski.

Unter den Krisenbedingungen des ökonomischen Wandels im Lande müssen die ÄrztInnen jedoch ständig fürchten, daß ihnen die Heilmittel ausgehen oder daß ein Mangel an Instrumenten und Einwegmaterial das „saubere“ Arbeiten erschwert. Keine Selbstverständlichkeit sind Zytostatika der neuesten Generation und moderne Antibiotika wie Tienam oder Granocyt. Es fehlt an Immunglobulinen, an intravenösen Kathetern und Infusionsgeräten. „Irgend etwas fehlt immer“, konstatiert Dr. Karatschunski trocken: „Und du kannst sicher sein: Das, was da ist, geht uns in einem Monat auch noch aus.“ Und dann fügt er hinzu: „Wenn diese Leute hier nicht mehr durchhalten, dann wird das ein schwerer Schlag für die russische Medinzin sein.“