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■ Die Türkei muß Frieden mit allen sozialen, ethnischen und religiösen Gruppen schließen – nicht Krieg gegen sie führenAnkaras anachronistischer Zug

Wer meint, aufatmen zu können, weil die Islamisten in der Türkei nicht in der neuen Koalitionsregierung vertreten sind, wer meint, diese bürgerliche Minderheitsregierung unter Mesut Yilmaz sei das „kleinere Übel“, der irrt gewaltig. Das Wichtigste vorweg: In der Türkei ist ein Kriegskabinett gebildet worden, das das Land in den Ruin führen wird. Ein Kriegskabinett gegen die Kurden, die aufbegehren. Ein Kriegskabinett gegen die Arbeiter, die gegen Entlassungen antreten. Ein Kriegskabinett gegen Aleviten und Linke. Ein Kriegskabinett gegen die Intelligenz. An allen Fronten rüstet die Regierung zur Schlacht. Der Militär- und der Polizeiapparat sind dabei ihre Hauptstützen, nicht die dünne parlamentarische Legitimation.

Ein Blick in die Regierungserklärung reicht aus, damit die Kriegsvorbereitungen offenbar werden. Da findet man nicht nur die klassischen Zauberformeln des zeitgemäßen Wirtschaftsliberalismus vom Ausverkauf der staatlichen Betriebe, von der Privatisierung der Banken und dem Ende der Agrarsubventionen, da ist gleich die Zerschlagung des gesamten staatlichen Sozial- und Krankenversicherungssystems angekündigt. Pinochet hat das in Chile vorgeführt – in der Türkei bedarf es noch nicht einmal eines Putsches dafür. Die Gewerkschafter werden auch so auf den Straßen zusammengeknüppelt.

Nach den Wahlen von 1991 versprach der Konservative und heutige Staatspräsident Süleyman Demirel ein Ende der Folter, „gläserne Polizeiwachen“ und die „Anerkennung der kurdischen Realitat“. Er bemüßigte sich noch, zumindest rhetorisch der Forderung nach Achtung der Menschenrechte und den Forderungen der Kurden entgegenzukommen, auch wenn die darauf folgende Regierungspolitik das Gegenteil davon praktizierte. Die jetzige Regierung bedarf noch nicht einmal dieser Rücksichtnahmen. Kurden – sie kommen in der Regierungserklärung nicht vor, statt dessen der „Kampf gegen Terrorismus“. Menschenrechte werden immerhin erwähnt: die der Auslandstürken. Wozu sie im Inland erwähnen? Schließlich lernt jeder Türke von Schulbeginn an, daß Folter zum Lebensalltag gehört, wie jüngst 14- bis 20jährige Schülerinnen und Schüler aus der ägäischen Stadt Manisa, die tagelang in Polizeihaft gefoltert wurden, weil sie „illegale“ Parolen an die Schulwand gepinselt haben sollen.

Die Vampire, die nach Blut dürsten, sind mittlerweile so wagemutig, daß sie im Tageslicht der Kabinettsliste auftauchen, die die Garantie für die Kriegführung ist. Der berüchtigte Polizeichef Mehmet Agar – in seiner Amtszeit wurden 2.065 (!) Folterungen in Polizeihaft registriert – darf den Justizminister spielen. Warum die Justiz nicht gleich abschaffen und in die Hände von Polizeibeamten und Militärs legen? Schon unter sozialdemokratischen Justizministern wurden politische Gefangene zu Tode geprügelt. Es ist leicht auszumalen, was unter „Terroristenjäger“ Mehmet Agar passieren wird.

Sein Kollege Ünal Erkan, während der letzten Militärdiktatur Polizeichef Ankaras und zuletzt allmächtiger Ausnahmerechtsgouverneur in den Kurdenprovinzen, wurde Staatsminister. Der türkische Menschenrechtsverein veröffentlichte jüngst eine Bilanz über Erkans Amtsperiode: 59 Menschen in Polizeihaft ermordet, 61 dort „verschwunden“, 1.280 fielen Todesschwadronen zum Opfer. Dutzende starben, als Erkan Schießbefehl auf kurdische Demonstranten erteilte. Nun, als Staatsminister für „Wohnungsprobleme“ zuständig, hat er Gelegenheit, sich der zwei Millionen kurdischen Flüchtlinge anzunehmen, die aus ihrer Heimat vertrieben wurden und in den Slums der Großstädte leben.

Kultusminister ist Agah Oktay Güner, einst strammer Gefolgsmann des Faschisten Alparslan Türkes und Ideologe der reaktionären „türkisch-islamischen Synthese“, heute damit beschäftigt, die „nationale Kultur“ zu verteidigen. Auch kleine Schmutzfinken wie Ayvaz Gökdemir – er titulierte die Europaparlamentarierinnen Claudia Roth, Catherine Lalumière und Pauline Green als „Prostituierte“ – fehlen nicht in der Regierung. Das neue Kabinett steht in nichts Brechts anachronistischem Zug nach.

Einzige öffentliche Legitimation für diese Regierung ist das Schreckgespenst des islamischen Fundamentalismus, das ihr breite Akzeptanz in Europa verschafft. Die „kommunistische“ und die „fundamentalistische Gefahr“ waren für die Europäer schon immer Grund genug, repressive Regime zu stützen. Deshalb nahmen sie auch billigend die türkische Militärdiktatur Anfang der 80er Jahre in Kauf. Heute müssen die Besserwisser in Europa den Türken erklären, daß sie Armut und Repression hinzunehmen haben, um die Islamisten von der Macht fernzuhalten. Ja, warum eigentlich?

Mit der neuen Regierung hat sich in der Türkei eine unheilvolle Bipolarität herausgebildet. Der herrschende bürgerliche Block auf der einen, die Islamisten als Alternative auf der anderen Seite. Jede neue Front, die die Regierung eröffnet, ob Militäreinsatz in Kurdistan oder Stillegung staatlicher Betriebe, wird in diesem System die Islamisten, die stärkste Fraktion im Parlament, stärken. Gleichzeitig verwischt der Krieg die realen Konfliktlinien in der Gesellschaft: Es heißt, im Krieg könne man nur auf einer Seite stehen oder sich dem Defätismus hingeben.

Doch das ehrgeizige neoliberale Umstrukturierungsprogramm des Kabinetts Mesut Yilmaz wird bald an seine Grenzen stoßen. Es bedarf schon einer Diktatur oder einer sehr breiten parlamentarischen Mehrheit, um es zu realisieren. Man braucht kein Wahrsager zu sein, um vorauszusehen, daß dieses Minderheitskabinett nicht seine fünfjährige Legislaturperiode überstehen wird. Schon bald werden die Karten neu gemischt werden. Die Kriegstreiber, die heute für Kriegführung im Rahmen eines autoritären Parlamentarismus plädieren, könnten dafür schon bald im Rahmen einer Militärdiktatur Partei ergreifen.

Es gibt eine Alternative: den Frieden. In der Türkei sind dringend ein gesellschaftlicher Interessenausgleich und die politische Integration der verschiedenen sozial, ethnisch oder religiös definierten Gruppen vonnöten. Der türkische Staat muß Frieden schließen, mit den Kurden, den Aleviten, den Gewerkschaften und den religiösen Bürgern. Frieden und offene, demokratische Auseinandersetzung ohne Statsanwaltschaft und Polizei im Nacken entzöge gleichzeitig dem politischen Islam seine Existenzgrundlage. Ömer Erzeren, Istanbul

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